Sonntags stehe ich plötzlich mit einer aufgelösten Frau, einem toten Pferd und einem scherzenden Landwirt auf einem nassen Feld. Nun gibt es gleich mehrere Probleme zu lösen. Ein Ausschnitt aus dem Leben einer Großtierärztin.
Es ist Sonntagnachmittag, das Telefon klingelt. Am anderen Ende eine völlig aufgelöste Frau, die mit ihrem Pferd im Gelände verunglückt ist.
Eigentlich ist auf den ersten Blick nichts Schlimmes passiert. Ihr Pferd ist nur während einer Trabstrecke auf einem schönen Wiesenweg gestolpert, hat sich mit den anderen Beinen aber noch abgefangen. Die Kundin stieg ab und stellte fest, ihre Stute hält ein Vorderbein seltsam. Das Pferd ließ sich augenblicklich keinen Schritt mehr bewegen, woraufhin die Frau sofort bei mir anrief.
Mir schwant nichts Gutes. Jedenfalls lasse ich mir genau den Ort beschreiben, wo sie sich befindet und verspreche, so schnell wie möglich dort hinzukommen. Wer selbst in der Gegend ausreitet, hat einen klaren Vorteil, das muss man schon sagen. Nach 8 Kilometern Straße und etwa 3 Kilometern Fahrt durch Wald und Wiesenwege wird klar, dass sich der Platz, an dem die Frau mit dem Pferd ist, zu dieser Jahreszeit nicht mit dem Auto erreichen lässt. Es ist einfach zu nass! Es wäre unmöglich, mit dem Auto wieder herauszukommen. Also: Auto wenden, vorsichtig in der Wiese, schon mal wieder in Wegfahrrichtung parken und die letzten 500 m zu Fuß zu den beiden Verunglückten rennen.
Das Pferd steht auf drei Beinen, schwitzt und zittert. Wir nennen die Stute mal Schnuffi. Schnuffi hat schreckgeweitete Augen und einen für Pferde rekordverdächtig hohen Puls. Das kann sie nicht lange durchhalten. Eine kurze Berührung des Vorderbeins zeigt: Es gibt Krepitation und abnorme Beweglichkeit. Die Kundin, die die Tränen noch mühevoll zurückgehalten hat, schluchzt: „Das ist es, oder? Jetzt ist es vorbei?“
Ich sehe sie ernst an und bejahe.
Sie bricht in Tränen aus und lässt sich in das nasse Gras sinken. Ich lenke den Fokus darauf, dass wir Schnuffi helfen müssen, Schnuffi hat starke Schmerzen und kann diesen Zustand nicht mehr aushalten. Ich sattle das Pferd ab. Schnuffi scheint sich indessen Sorgen um ihr Frauchen zu machen. Ich sage ihr, dass wir das schaffen, dass Schnuffi sie braucht und dass ich gleich zurück bin.
Ein gutes Gefühl habe ich nicht, während ich sie alleine lasse und mit ihrem Sattel auf dem Arm zu meinem Auto renne, um Venenkatheter, Pentobarbital und was man sonst noch so braucht, zu holen.
Erleichtert stelle ich kurze Zeit später fest, dass beide noch dort stehen und gefasst wirken. Während ich den Venenkatheter einlege, erzähle ich Schnuffi, dass ich ihr helfen werde. Gleich tut nichts mehr weh. Ich danke ihr, dass sie immer so brav war und für alles, was sie für uns getan hat. Es geht mir leicht von den Lippen, schließlich könnte ein Pferd seinem Tierarzt das Leben auch schwer machen. Schnuffi kuschelt bei mir, während die Frau am Straßenrand nicht mehr stehen kann vor Schluchzen. Sie hat Schnuffi die Trense abgenommen und ich stehe mit einem Pferd, das völlig frei ist, mitten im Nirgendwo.
Ich frage, ob sie noch Zeit braucht, sie verneint. Zwei große Spritzen Pentobarbital später kippt Schnuffi schwungvoll Rücken voraus in den Graben des Wegs. Ihre Besitzerin stößt einen Schluchzer aus, der einem das Blut in den Adern stocken lässt. Ich konzentriere mich auf vier Minuten Nulllinie hören. Nachdem das beendet ist, sage ich der Ex-Pferdebesitzerin, dass es jetzt gut sei, Schnuffi leide nicht mehr und hätte nicht lange gelitten, wir wären ja sehr schnell gewesen, es gebe Pferde, die brechen sich nachts in der Box ein Bein, müssen dann bis in die Früh warten – das sei doch schlimmer. Ich sage ihr das und Ähnliches. Sie wiederholt: „20 Jahre. 20 Jahre habe ich Schnuffi.“
Sie möchte allein zu Fuß in Richtung Reitstall gehen, ich bestehe aber darauf: Sie muss mit mir kommen. Sie will wissen, warum und weil ich nicht sagen will „Ich habe Angst, dass Sie zusammenbrechen, so alleine im Wald“, erkläre ich stattdessen: „Ich brauche jemanden, der schiebt, falls ich mit meinem Auto da nie wieder aus dem Schlamm komme.“ Sie kommt mit mir.
Ich bringe sie zurück in den Reitstall, wo ich mich darum bemühe, jemanden zu finden, mit dem sie sich gut versteht, der sich um sie kümmert und dem sie erzählen kann, was passiert ist. Ich frage sie, ob sie Pläne hat, wie es weitergehen soll. Sie flüstert, es sei ihr alles völlig egal, sie kann überhaupt nicht denken. Ich solle dafür sorgen, dass es in irgendeiner Form weitergeht.
Alle Kommentierenden die mir erzählen, dass das nicht meine Aufgabe sei, haben recht und können sich die Mühe des Tippens sparen. So kann man meiner Meinung nach nicht wegfahren. Ein totes Pferd liegt im Gelände, das jederzeit ein Pilzesammler, eine Familie mit Hund und Kindern oder wer auch immer finden könnte. Ich überlege also, was jetzt schlau wäre.
Tatsächlich gibt es in der Nähe einige Bauern, die wirklich nett sind. Ein Bauer aus der Gegend wird angerufen, ob er nicht möglicherweise so freundlich wäre, herzukommen mit schwerem Gerät, gerne mit Rundschlingen und Frontlader und gerne einer großen Schaufel und ob er nicht bitte helfen würde, ein totes Pferd aus dem Wald zu bergen.
Auch eine gewagte Bitte für Sonntagnachmittag ... .
Aber dieser Bauer ist wirklich freundlich. Er lacht und bejaht mit den Worten: „Wer soll es denn sonst machen, wenn nicht wir? Es kann ja wahrscheinlich nicht liegen bleiben und heimlaufen wird es wohl auch nicht mehr!“ Sachlich absolut richtig.
Etwa 20 Minuten später trifft der Landwirt ein. Ich steige zu ihm auf den Traktor und zeige ihm, wo das Pferd liegt. Jetzt habe ich Zeit, das Bein noch einmal richtig zu untersuchen, das hätte ja auch viel zu wehgetan, als das Pferd noch am Leben war. Beeindruckenderweise kann das Pferd das Vorderbein lateral bis zum Widerrist auslenken bei fürchterlicher Krepitation. Die Stute war nicht mehr die Jüngste und es war klar, dass es schon Osteoporose und einiges an Arthrosen gibt, aber sie war ansonsten fröhlich und fit. Es tut mir leid, dass Schnuffis letzte Stunde wohl nicht schön war.
Der Landwirt fragt, ob ich wüsste, wie man mit Rundschlingen umgeht. Leider ja. Nicht mein erstes tot zu bergendes Großtier. Bei Weitem nicht. Gottseidank verläuft die Aktion ohne Publikum und Zwischenfälle. Dem Landwirt bin ich sehr dankbar – allerdings ist das Wechselbad der Stimmungen auch als Tierarzt schwer zu ertragen. Die Unterschiede sind verständlich und logisch. Der Umgang mit der Pferdebesitzerin und dem Landwirt – er könnte gegensätzlicher nicht sein. In einer Sekunde muss man pietätvoll sein, kurz darauf am besten scherzend den Müll wegräumen. Schon extrem. Dann im Stall nochmal Gefühlslage wechseln.
Ich muss dem Pferd die Hufeisen abziehen, weil diese weder in die Einäscherung noch in die Tierkörperbeseitigungsanlage dürfen. Ich bedanke mich herzlich beim Landwirt. Schnuffis Leiche und ich sind nun wieder alleine. Ich nehme die Hufeisen ab, das ist körperlich recht anstrengend, wenn das Pferd die Beine nicht selbst hebt. Dann muss ich mich zu der Besitzerin aufmachen. Hufeisen mitnehmen, fragen, wie es weitergehen soll: Wege anbieten, Adressen vorlegen, mir von den anderen Stallmitgliedern böse Blicke einfangen, wie man nur so abgebrüht sein kann ... . Aber es muss ja in irgendeiner Form weitergehen – es geht ja nicht anders.
Traurig, aber wahr.
Manchmal endet ein Pferdeleben plötzlich und es bleibt keine Zeit, sich vorher große Gedanken zu machen, wie es dann weitergehen soll. Die Besitzerin entscheidet sich dafür, ihre Schnuffi einäschern zu lassen und ich unterschreibe, dass das Pferd frei von ansteckenden Krankheiten war. Auch wenn ich nicht verstehe, warum das so ist. So kann die Stute am nächsten Tag von einer entsprechenden Firma abgeholt werden.
Ein Sonntagnachmittag wie dieser ist schon einer der übleren, der einem Großtierpraktiker blühen kann. Es ergeben sich ab und an aus der Großtierpraxis nicht nur psychologische, sondern auch erhebliche logistische Probleme.
Bildquelle: Lucie Hošová, unsplash