Nach einer Covid-Erkrankung entwickelt eine Frau beunruhigende psychische Symptome – unter anderem ist sie davon überzeugt, bereits tot zu sein. Während die Ärzte noch unschlüssig sind, spitzt die Lage sich plötzlich zu.
Eine 57-jährige Frau ruft verzweifelt den Notarzt. Sie berichtet, dass sie sich seit einer Woche wegen einer Covid-Erkrankung isoliere, ihre Symptome aber nicht abklingen würden. Inzwischen sei ihr Zustand so schlecht, dass sie sich nicht mehr um ihren Vater kümmern könne, den sie zuhause pflegt – er habe sich mittlerweile ebenfalls SARS-CoV-2 eingefangen.
Der Notarzt bringt beide in die nächstgelegene Klinik, wo sie stationär aufgenommen und wegen ihrer Covid-Pneumonie behandelt werden. Dort erhält die Frau zusätzlichen Sauerstoff, Remdesivir und Dexamethason. Während ihres Aufenthalts fällt den Ärzten auf, dass die Patientin wiederholt an Angstzuständen leidet – insbesondere dann, wenn die Entlassung ihres Vaters thematisiert wird. Sie und ihr Bruder weigern sich, ihren Vater in ein Rehabilitationszentrum zu entlassen, sondern planen stattdessen, dass er zu der Patientin nach Hause zurückkehren soll, sobald er gesund ist.
Der Blick in die Krankenakte verrät, dass die Patientin in ihrer Vergangenheit schon öfter mit psychischen Problemen zu kämpfen hatte – mit Mitte 20 war bei ihr eine schwere Depression diagnostiziert worden, die mittels Elektrokonvulsionstherapie behandelt wurde. Seitdem war sie noch zwei weitere Male wegen psychiatrischer Symptome stationär in Behandlung: Einmal wegen einer schweren depressiven Störung und einmal wegen einer bipolaren Episode, die auf Schlaflosigkeit und Angstzustände zurückzuführen war.
Nach sechs Tagen in der Klinik ist es soweit: Die Frau wird entlassen, noch vor ihrem Vater. Doch schon am Tag darauf ist sie wieder zurück in der Notaufnahme. Ihr Bruder habe sich Sorgen um sie gemacht als sie am Telefon einen verwirrten Eindruck machte. Auch den Ärzten kommt der Zustand der Frau seltsam vor: Bei der Untersuchung ist sich die Patientin gar nicht mehr so sicher, warum sie eigentlich hier ist und möchte lieber wieder nach Hause – gleichzeitig sagt sie, habe sie Angst, allein zuhause zu sein. Sie wirkt zwar wach und orientiert, aber verängstigt. Sie läuft im Untersuchungszimmer hin- und her und spricht dabei beharrlich über ihren Vater. Sie fühle sich überwältigt vom Gedanken, wieder die Pflege ihres Vaters zu übernehmen, wenn er entlassen wird.
Die weitere Untersuchung verläuft normal. Die Ärzte stellen fest, dass der Husten und die Kurzatmigkeit, die infolge der Covid-Erkrankung auftraten, abgeklungen sind. Sie hat kein Fieber, keine visuellen oder auditiven Halluzinationen und keine anderen auffälligen Symptome. Ihre Temperatur beträgt 37,2 °C, der Puls 97 Schläge pro Minute, der Blutdruck 153/95 mmHg, die Atemfrequenz 20 Atemzüge pro Minute und die Sauerstoffsättigung 93 %. Die Ärzte entscheiden sich dennoch dazu, die Patientin wieder stationär aufzunehmen, um die Entlassung in ein Rehabilitationszentrum zur weiteren Betreuung zu erleichtern.
In der Klinik zieht sich die Patientin immer mehr zurück. Am dritten Tag ihres Aufenthalts beginnt sie damit, Fragen nur noch mit einem einzigen Wort oder Schweigen zu beantworten. Die Situation verschlimmert sich zusehends. Sie liegt nur noch regungslos im Bett und starrt mit offenen Augen an die Decke. Eine manisch-depressive Episode?
Hinweise auf Halluzinationen oder Suizidgedanken gibt es nicht. Aufgrund ihrer affektiven Störung nimmt die Patientin einen Mix an Antidepressiva ein, darunter Bupropion, Fluoxetin und Olanzapin. Die Ärzte vermuten, dass bei dieser Patientin mit Verdacht auf eine bipolare Störung die Antidepressiva eine sekundäre manische Episode ausgelöst haben könnten. Allerdings ist ihr Zustand nicht typisch für eine medikamentenbedingte Manie, die mit klassischen Symptomen wie Schlaflosigkeit, Euphorie oder Reizbarkeit, extremer Hyperaktivität und gedrängter Sprache einhergehen würde. Auch eine Nebenwirkung der hochdosierten Steroidtherapie (die Patientin erhielt Dexamethason) – auch bekannt als steroid-induzierte Psychose – schließen die Ärzte eher aus, denn das Medikament hatte sie schon vor einigen Tagen wieder abgesetzt.
Liegt vielleicht eine organische Ursache zugrunde? Eine CT-Aufnahme des Kopfes gibt zwar keine Hinweise auf einen Infarkt oder einen Tumor. Allerdings sind Veränderungen in der weißen Substanz zu sehen. Während die Patientin auf einen freien Platz in der psychiatrischen Abteilung der Klinik wartet, rätseln die Ärzte weiter über den Zustand der Frau. Dem Pflegepersonal bietet sich derweil ein unheimliches Bild – aber zusammen mit dem Kopf-CT ergibt sich endlich eine heiße Spur: Als sie die Patientin ermutigen, mehr über ihren Zustand zu sprechen, erzählt sie von ihrem Vater und sagt plötzlich: „Er ist tot. Ich bin tot.“
Sie glaubt auch, ihr Bruder und ihre Pfleger sowie die Ärzte seien tot. Sie sagt, sie könne nicht mehr urinieren, weil ihre Blase nicht mehr existiere und sie könne auch nicht mehr essen. Außerdem macht sie sich schwere Vorwürfe, weil sie davon überzeugt ist, allein für die Corona-Pandemie verantwortlich zu sein. Die Ärzte vermuten, dass ihre Patientin aufgrund einer Neuroinflammation in Verbindung mit COVID-19, eine Depression, Katatonie und das Cotard-Syndrom entwickelt hat. Als Cotard-Syndrom bezeichnet man die leidvolle wahnhafte Überzeugung, tot zu sein, zu verwesen oder inexistent zu sein.
Die Ärzte verabreichen ihr Clonazepam und steigern die Dosis von Olanzapin. In der psychiatrischen Abteilung erleidet sie schließlich einen epileptischen Anfall, weswegen sie Levetiracetam erhält und weitere vier Wochen in der Klinik bleibt. Nach ihrer Entlassung wird die Patientin allerdings drei weitere Male wegen einer schweren depressiven Störung mit psychotischen Zügen – hauptsächlich Paranoia – in die stationäre Psychiatrie eingewiesen.
Der Case Report ist im NEJM erschienen.
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