Der Kunde überreicht mir ein Rezept für Codeintropfen, die er gegen seinen trockenen Husten verschrieben bekommen hat. So weit, so unaufregend – bis ich die Dosierung sehe. Hat der Arzt sich hier einen Scherz erlaubt?
Vor Kurzem hatte ich einen jungen Mann, Anfang 20, in der Apotheke, der mir ein Rezept über Codeintropfen überreichte. Codein wird hauptsächlich gegen trockenen Husten eingesetzt. Es führt dabei zu einer Dämpfung des Hustenzentrums im Stammhirn sowie zu einer Hemmung von Hustenrezeptoren im Bronchialtrakt. Dadurch wird die Häufigkeit und die Intensität des Hustens reduziert. Codein wird aber auch – zusammen mit Paracetamol – gegen Schmerzen eingesetzt.
Bei Codein handelt es sich um eines von 37 Alkaloiden, das man aus Opium gewinnen kann. Alkaloide sind meist basische, stickstoffhaltige, organische Verbindungen, die im Körper verschiedene Wirkungen auslösen können. Die im Opium vorkommenden Alkaloide werden Opiate genannt. Bei Opium handelt es sich um den getrockneten Milchsaft der unreifen Samenkapseln des Schlafmohns. Der erste, dem es gelang, Codein aus Opium zu isolieren, war der französische Chemiker Pierre-Jean Robiquet im Jahre 1832. Damit war er aber nicht der erste, der ein Alkaloid aus Opium isolierte. Das war Friedrich Sertürner, der bereits 1804 das schaffte, was viele vor ihm versuchten: Eine Substanz aus Opium zu isolieren, die Sertürner schließlich Morphin nannte. Das war damals ein Meilenstein, da man bis zu dem Zeitpunkt noch davon ausging, dass alle wirksamen Substanzen in den Pflanzen einen sauren Charakter haben müssten.
Morphin wird auch heute noch bei starken Schmerzen eingesetzt. Verändert man das Molekül ein wenig, lässt sich daraus Codein herstellen. Der chemische Name von Codein lautet 3-Methylmorphin. Das Wasserstoffatom (-H) der phenolischen Hydroxygruppe vom Schlafmohn wurde bei Codein durch eine Methylgruppe (-CH3) ersetzt. In Opium beträgt der Gehalt an Codein zwischen 0,1 und 6 Prozent. Man kann Codein also entweder direkt aus Opium gewinnen oder aus Morphin herstellen.
Wie ihr wisst, muss vom verschreibenden Arzt auf dem Rezept angegeben werden, wie das Arzneimittel zu dosieren ist. So fordert es die Arzneimittelverschreibungsverordnung § 2, Absatz 1.
Auf dem Codein-Rezept meines Kunden stand geschrieben, dass er vor dem Schlafen 4 Tropfen Codein einnehmen müsse. Die verordneten Codeintropfen enthielten einen Milligramm Codein pro Tropfen. Er sollte dementsprechend 4 Milligramm Codein einnehmen. Mein erster Gedanke war, dass sich sein Arzt möglicherweise verschrieben hatte, weshalb ich ihn anrufen wollte. Normalerweise nimmt man nämlich bereits ab 12 Jahren 15–44 Milligramm bzw. Tropfen als Einzeldosis. Maximal sogar 100 Milligramm, mit einer Tageshöchstdosis von 200 Milligramm.
4 Tropfen erschienen mir als etwas zu wenig. Mein Kunde erklärte mir, dass er beim letzten Mal die normale Dosis bekam, davon umkippte und Probleme mit dem Atmen bekam. Das könnte durchaus eine Erklärung sein. Also was hat es nun mit dieser niedrigen Dosis auf sich?
Wird Codein eingenommen, wird bei der ersten Leberpassage bei etwa 10 Prozent der Moleküle die Methylgruppe durch das CYP2D6-Enzym wieder entfernt, wodurch Morphin entsteht. Man spricht dabei von einer Demethylierung. Bindet zu viel Morphin an den MOR, den My-Opioid-Rezeptor, kann dadurch eine Atemdepression ausgelöst werden, was zur Folge hat, dass der Körper mit weniger Sauerstoff versorgt wird und der Kohlenstoffdioxidgehalt im Blut ansteigt. Im schlimmsten Fall kann das zu Atemstillstand und Tod führen.
Manche Menschen haben zu wenig CYP2D6-Enzyme, sodass sie das Codein kaum bis gar nicht in Morphin umwandeln, andere hingegen besitzen zu viele davon. Man spricht bei letzteren von den ultraschnellen Metabolisierern (Ultrarapid Metabolizer). Bei ihnen wird folglich mehr Codein in Morphin umgewandelt als zuvor erwartet, was eben jene gefürchtete Atemdepression auslösen kann.
Seit ein paar Jahren darf Codein deshalb nicht mehr bei Kindern unter 12 Jahren verordnet werden, da es zu mehreren Meldungen über schwere Komplikationen bis hin zu Todesfällen bei Codein-Einnahme kam. Eine Atemdepression ist vor allem bei Kindern unter 12 Jahren besonders schwer vorhersehbar.
Es liegt daher nahe, dass auch mein Kunde zu den ultraschnellen Metabolisierern gehörte, was seinen Arzt letztendlich die Dosis so niedrig ansetzen ließ. Warum der Arzt dann nicht einfach etwas anderes gegen den Reizhusten verordnete, kann ich mir nur so erklären, dass vermutlich Codein das einzige Mittel war, das beim Patienten eine Wirkung zeigte – wer weiß.
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