Zwei Fälle, viele Lösungen: Da ist der junge Familienvater mit Krebs, der keine Aussicht auf Besserung hat, aber weiter Chemo möchte. Oder der schizophrene Patient, der eine Elektrotherapie ablehnt, aber gefährlich ist. Was tust du?
Über den eigenen Tellerrand zu schauen, hat noch nie geschadet. Gerade wenn man sich seit vielen Jahren im eigenen fachärztlichen Spektrum bewegt, tut ein Perspektivenwechsel gut: im Umgang mit Patienten, Kollegen und mit sich selbst.
Eine Akademisierung der Medizinethik existiert seit 1970 in den USA, in Deutschland seit 1995. Etabliert haben sich mittlerweile Arbeitsgruppen für Ethikberatungen im Krankenhaus, die aus Pflegenden, Sozialarbeitern, Theologen und Medizinern bestehen. Gemeinsam ringt man in ethisch schwierigen Situationen nach dem besten Weg für die Patienten, deren Angehörige und den für die Therapie Verantwortlichen. Dabei gibt es mittlerweile erprobte Algorithmen, die ein Ethikkomitee unter Leitung eines neutralen Moderators in den klinikinternen Beratungsgesprächen anwendet. Die Akademie für Ethik in der Medizin (AEM) bietet Fortbildungen für Ethikberatungen an.
Ob bei einer Zusammenkunft des Ethikkomitees im Krankenhaus oder einer Fortbildung zur Ethikberatung – zu Beginn stehen immer spannende Fälle, die es zu analysieren und bestmöglich zu entscheiden gilt.
Fall 1: Ein 39-jähriger Patient gibt gelegentliche Schmerzen im Brustbereich an. Es entwickeln sich Gefühlsstörungen in Armen und Beinen, die schließlich zu einem kompletten Querschnitt führen.
Im CT wird ein Tumor im Brustbereich diagnostiziert, der die Lungengrenzen bereits überschritten hat. Eine Operation kann den Tumor nicht vollständig entfernen, die Histologie ergibt ein aggressives kleinzelliges Bronchialkarzinom. Die kombinierte Radiochemotherapie bringt zunächst einen Rückgang der Lähmungserscheinungen, die Tumorausdehnung wird reduziert. In der CT-Kontrolle nach Therapieabschluss wird eine neu aufgetretene Metastasierung in Nebennieren, Pankreas und Leber diagnostiziert.
Der Patient wünscht eine Fortsetzung der Hochdosis-Chemotherapie, will kämpfen und gibt die Hoffnung nicht auf. Er möchte noch möglichst lange für seine Familie da sein. Das Behandlungsteam fürchtet eine stark eingeschränkte Lebensqualität durch eine erneute Hochdosis-Chemotherapie. Außerdem sieht es durch die Tatsache der Metastasierung unter Therapie wenig Erfolgsaussichten auf Remission. Erwogen werden drei Optionen:
Fall 2: Ein 42-jähriger Patient wird mit Rettungsdienst und Polizei unter richterlicher Anordnung in eine psychiatrische Klinik eingewiesen. Seit seinem 19. Lebensjahr leidet er unter einer Schizophrenie. Die Einweisung erfolgte aufgrund akuter Fremd- und Eigengefährdung. Die medikamentöse Therapie ist weitgehend ausgereizt und in der Klinik muss der Patient wegen massiver Fremdgefährdung mehrmals fixiert werden. Eine ähnliche Situation bestand bereits vor fünf Jahren. Damals konnte durch eine Elektrokrampftherapie (EKT) die Remission und baldige Entlassung bewirkt werden. Der Patient hatte die EKT gut und ohne größere Nebenwirkungen toleriert.
Zwischenzeitlich hatte der Patient ein Formblatt unterschrieben, auf dem er eine erneute EKT ablehnte. Dabei sei er, laut behandelndem Arzt, voll zurechnungsfähig gewesen. Jetzt äußert er immer wieder, möglichst schnell entlassen werden zu wollen und keine weitere Fixierung mehr zu tolerieren. Das klinikinterne Ethikkomitee steht vor der Entscheidung:
Umgangssprachlich werden Moral und Ethik oft synonym gebraucht. Streng genommen versteht man unter Moral all das, was je nach vorherrschenden Regeln, Normen und Wertmaßstäben als richtig oder falsch gilt. Ethik versucht zu begründen, warum etwas richtig oder falsch ist. Ethik fragt zum einen nach dem maximalen Nutzen (Utilitarismus) für alle Betroffenen, zum anderen nach der allgemeinen Gültigkeit (kategorischer Imperativ nach Kant: Handle nur so, wie es auch allgemeines Gesetz werden könnte).
Durch die steigende moralische Diversität in der Gesellschaft nehmen moralische Konflikte zu, die es ethisch zu lösen gilt. Medizinische Ethikberatungen laufen nach vier Prinzipien ab:
Alles, was dem Patienten nutzt, steht im Vordergrund. Seine Lebensqualität und -erwartung sollen verbessert werden. Problematisch bleibt die Bewertung von Lebensqualität und die oft schwierige Einschätzung von Lebenserwartung.
Dem Patienten darf durch eine Therapie kein Schaden zugefügt werden. Hierbei ist die Abwägung von Nutzen und Schaden oft nicht unproblematisch.
Jeder Mensch hat ein Selbstbestimmungsrecht. Ziel ist das informierte Einverständnis des Patienten, das durch ausreichende Aufklärung entscheidungskompetent und freiwillig getroffen wird.
Im Gesundheitswesen sollte eine faire Verteilung von Nutzen und Lasten bestehen. Auf der Agenda steht hier der verantwortungsvolle Umgang mit knappen medizinischen Ressourcen. Problematisch ist die Einteilung in wirklich notwendige Maßnahmen und die Auswahl kostengünstiger Alternativen.
Die Leitfragen in der Praxis lauten:
Ein Ethikkomitee sollte sich an der prinzipienorientierten Falldiskussion orientieren. Im Konfliktfall findet danach eine Gewichtung statt. Hier werden insbesondere das Nutzen-Risiko-Profil und die Autonomie des Patienten gegeneinander aufgewogen. Es empfiehlt sich ein schematisches Vorgehen:
Im Fall 1 handelte es sich um eine tatsächliche Beratungssituation in einer Klinik. Hier wog das Ethikkomitee die Autonomie des Patienten gegenüber dem Nutzen-Schaden-Prinzip ab. Einerseits war der Wunsch nach Maximaltherapie und möglichst langer Lebenszeit für den jungen Familienvater gut nachvollziehbar. Andererseits fürchtete man, mit einer weiteren Hochdosis-Chemotherapie mehr Schaden als Benefit für den Patienten zu erreichen, zumal der Tumor unter Therapie bereits gestreut hatte. Keinerlei Therapie stellte für den Patienten und seine Angehörigen keine Option dar.
Gemeinsam mit dem Patienten entschied sich das Ethikkomitee für eine abgeschwächte Chemotherapie mit tolerablen Nebenwirkungen. Der Patient verstarb nach wenigen Wochen unter Therapie.
Fall 2 wurde im Rahmen einer Fortbildung diskutiert. Das fiktive Komitee war sich uneinig, ob in diesem Fall die Autonomie des Patienten, die sich in der Patientenverfügung darstellte und der Nutzen einer EKT gegeneinander aufgewogen werden können. Andererseits erschien der Autonomiewunsch nach baldiger Entlassung ohne EKT schwer realisierbar. Nötige Fixierungen wegen akuter Fremdgefährdung entsprachen ebenfalls nicht dem Wunsch des Patienten.
Der Moderator betonte die Gewichtung zu Gunsten des bereits erprobten Nutzens einer EKT für den Patienten und die zu erwartende positive Auswirkung auf den dringenden Entlassungswunsch. Die Therapie war bereits einmal ohne Schaden gut vertragen worden und verhalf dem Patienten, schnell die eigene Autonomie zurück zu erlagen. Weiterhin wurde die medizinisch korrekte Informationslage der Patientenverfügung angezweifelt. Definitiv konnte der Fall nicht aufgelöst werden.
Ethik in der Medizin ist spannend, schult konfliktlösendes Denken und erweitert den eigenen Horizont. Es schadet nicht, sich in medizinethische Theorien und Lösungsprinzipien einzudenken, denn wir werden alle – privat oder beruflich – irgendwann mit ethisch schwierigen Situationen konfrontiert.
Weiterführende Literatur: Georg Marckmann (Hrsg.): Praxisbuch Ethik in der Medizin; 2.aktualisierte und erweiterte Auflage; Medizinisch wissenschaftliche Verlagsgesellschaft
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