Der Mann kniet vor mir, er ringt um Luft. Im Kopf gehe ich mögliche Ursachen durch, während ich versuche, ihm zu helfen. Und dann ist da noch die aufgebrachte Partnerin, die beruhigt werden muss.
Und plötzlich ist es da: dieses Gefühl von unbeschreiblicher Hilflosigkeit. Wenn ein Mensch vor dir kniet und sich mit weit aufgerissenen Augen an deine Jacke klammert, dann vergisst du das niemals.
Unsere Aufgabe ist es, am Einsatzort den Trichter in unserem Kopf mit Differenzialdiagnosen zu füllen und so das Problem einzugrenzen. Doch was, wenn dafür keine Zeit bleibt?
Wir haben gelernt, nach einem Schema zu arbeiten – also los!
Punkt A: Atemwege. Die sind hier offensichtlich verlegt! Die Person greift sich an den Hals, will atmen, doch kann es nicht. Der Kopf ist bereits komplett blau angelaufen – eine Atemfrequenz? Nicht erfassbar. Nein … da ist keine normale Atmung und der Brustkorb hebt und senkt sich nicht. SpO2? Keine Zeit! Aber wir brauchen keine Sättigung, um zu sehen, dass dieser Patient dringend Sauerstoff benötigt.
Da wir bereits bei A ein Problem feststellen, folgt die erste Maßnahme: 5 Schläge zwischen die Schulterblätter, denn in den Mund können wir nicht schauen. Der Patient ist panisch und nicht compliant.
Gedacht, getan – aber es hilft nicht. Es wird laut, es wird hektisch.
Ich weise meine Kollegin an, sofort den Beatmungsbeutel vorzubereiten, den Sauerstoff, einen Guedel-Tubus, die Absaugbereitschaft und die Intubationstasche rauszulegen, während ich dem Patienten mit der flachen Hand zwischen die Schulterblätter schlage und ihn halte, als er zusammenbricht.
Die Angehörige weise ich an, erneut die 112 zu wählen, denn ich habe keine Zeit, es selbst zu tun. „Stellen Sie das Telefon auf laut – wir brauchen einen Notarzt, JETZT!“
Die Leitstelle fragt nicht, sie handelt, denn sie hören an meiner Stimme, dass es ernst ist. Kurz darauf kollabiert der Patient komplett. Mit starrem und flehendem Blick schaut er uns an, ringt weiter nach Luft, doch vergebens. Schnappatmung!
Wir wissen, was nun folgt.
Erst jetzt, da die Kräfte nachlassen, lässt der Patient sich in den Mund schauen. Der Kiefer ist steif und der Mund lässt sich kaum öffnen. Die Zunge wirkt stark geschwollen. Als wir realisieren, dass wir gleich mit der Herz-Lungen-Wiederbelebung starten werden, müssen wir funktionieren. Keine Zeit, in Ruhe alles zu durchdenken.
Die Herzfrequenz sinkt … 50, 40, 30 Schläge pro Minute. Der Herzmuskel kämpft und ich sehe, wie sich die EKG-Ausschläge verändern, weil das Herz keinen Sauerstoff mehr bekommt.
Immer wieder kommt es zu Extraschlägen und plötzlich hat der Patient keinen tastbaren Puls mehr. Wir beginnen mit der Herz-Lungen-Wiederbelebung.
Zuvor hatte ich nochmal versucht, assistiert und dann kontrolliert zu beatmen, die Atemwege mit Hilfsmitteln freizuhalten und den Patienten abzusaugen, aber der steife Kiefer und die verengte Mundöffnung machen es sehr schwierig. „War heute irgendetwas anders, gab es irgendetwas NEUES – ein Medikament, etwas Ungewöhnliches zum Essen, irgendwas?“, frage ich die Angehörige. Uns stirbt gerade ein Patient unter den Händen weg und gerade deswegen müssen wir versuchen, die Ursache dafür herauszufinden. Während all unseren Maßnahmen muss also eine Anamnese stattfinden.
Zwischen Tränen und Schreien, zwischen Hoffnung und Verzweiflung muss ich den Angehörigen, die ohnehin schon völlig überfordert sind, diese vielen Fragen stellen. Auch das gehört zu unserem Job, auch wenn es immer wieder Überwindung kostet. Die Fragen sind notwendig, um die Ursache zu finden.
„Ja, Wir waren gestern Abend beim Arzt wegen seiner Rückenschmerzen. Dort hat er eine Infusion bekommen. Und für zuhause hat er noch Novalgin bekommen, davon hat er eine genommen.“
Wir haben also keine bekannten Allergien, aber die Einnahme von Novalgin und die Gabe einer Infusion unklaren Inhaltes, vermutlich ein Schmerzmittel. Vielleicht handelt es sich um eine Anaphylaxie? Das würde die geschwollene Zunge und die Atemnot erklären.
Es steht also fest: Wir geben Adrenalin in den Muskel! Das ist die schnellste Möglichkeit, das helfende Medikament in den Körper zu bringen (ohne in den Knochen zu bohren oder die Vene punktieren zu müssen).
Während meine Kollegin schon die Herzdruckmassage begonnen hat, versuche ich, weiterhin zu beatmen. Während der Brustkorb sich hebt und senkt, gehen wir die weiteren Schritte durch.
Wir brauchen mehr Hände!
Wir müssen einen Zugang in die Vene oder den Knochen etablieren, um weitere Medikamente applizieren zu können. Außerdem benötigen wir einen sicheren Atemweg, müssen den Patienten also intubieren. Doch aufgrund des starren Kiefers ist das aktuell nicht möglich.
Mit der Überstreckung des Kopfes schaffe ich es zumindest, den Patienten gut zu beatmen. Das Demand-Ventil, welches hochdosierten Sauerstoff in den Beatmungsbeutel zieht, zischt gleichmäßig mit jeder Beatmung. So soll es sein. Wir versuchen also, den Patienten mit jeder Beatmung weiter aufzusättigen, denn letztendlich war vermutlich die Sauerstoffunterversorgung der Grund für den Herz-Kreislauf-Stillstand. Nun ersetzen wir die Arbeit von Lunge und Herz, um dieses Leben zu erhalten.
Außer den Ausschlägen durch die Herzdruckmassage zeigt das angelegte EKG keinerlei elektrische Aktivität mehr an – der Herzmuskel hat bereits aufgegeben.
Währenddessen versuche ich, mit der Angehörigen zu reden – sie aufzufangen, sie zu beruhigen. Ich versuche, ihr verständlich zu machen, dass wir alles tun, um ihrem Mann zu helfen und trotzdem sind es so viele weitere Fragen, die ich ihr stellen muss.
Wir bekommen endlich Hilfe.
Nach einer ersten EKG-Analyse hatten meine Kollegin und ich uns bereits abgewechselt, damit wir weiterhin effizient die Herzdruckmassage ausführen können. Zwischen den Beatmungen, während eine von uns jeweils 30x gedrückt hat, hat die andere immer ein kurzes Zeitfenster, um weitere Maßnahmen vorzubereiten. Dadurch können wir noch vor Eintreffen des Notarztes einen intravenösen Zugang etablieren und die Intubation vorbereiten. Auch die Anamnese ist mittlerweile ausführlicher.
Wir erinnern uns: Wegen starker Rückenschmerzen hatte der Patient in der Nacht noch Arztkontakt. Dort hatte er Schmerzmittel erhalten, u. a Novalgin, weswegen eine Anaphylaxie im Raum stand. Diese würde auch die geschwollene Zunge erklären, jedoch nicht den steifen Kiefer, der schon bei unserem Eintreffen vorhanden war und sich auch jetzt noch nicht löst. So etwas habe ich in meiner Laufbahn noch nicht erlebt und auch der Notarzt ist irritiert.
Eine Intubation ist so nicht möglich, aber die Beatmung mit dem Beutel ist weiterhin machbar. Der Brustkorb hebt und senkt sich, beide Lungen sind belüftet und dennoch – die Sauerstoffsättigung bleibt unbeeindruckt schlecht, die Zyanose bildet sich nicht zurück und all unsere Medikamente scheinen wirkungslos.
Warum passiert das gerade? Was ist der Grund? Die Rückenschmerzen? Hat der Patient einen Herzinfarkt, der übersehen wurde oder haben sie nichts mit der jetzigen Situation zu tun?
Da ist er wieder, der Trichter.
Es war nichts davon. Der Patient hat es leider nicht geschafft.
Sein Problem war ein völlig anderes. Wie wir im Nachhinein erfahren haben, litt der Patient an einer Aortendissektion. Damit ist er einfach innerlich verblutet, vermutlich über mehrere Stunden.
Das erklärt auch, warum unsere Medikamente nicht wirkten, denn sie liefen einfach ins Leere und konnten ihre Wirkung gar nicht entfalten. Es erklärt, warum der Patient nicht rosiger wurde, obwohl wir ihn beatmeten. Und es erklärt, warum wir nichts mehr für ihn tun konnten. Es war einfach zu spät.
Die Gewissheit darüber macht es erträglicher, aber die Frage nach dem „Warum“ und dem „Was wäre, wenn“ stellt man sich nach so einer Situation trotzdem. Dieser Einsatz zeigt, dass manchmal keine Zeit bleibt und schnell Entscheidungen getroffen werden müssen. Er zeigt, was die Herausforderungen in unserem Job sind. Wir müssen so viel leisten und das oftmals unter widrigsten Bedingungen und unter immensem Zeitdruck. Wir müssen schnell den Trichter im Kopf füllen und diese verdammten Fragen stellen, die einem so unangebracht vorkommen – die aber helfen, Entscheidungen zu treffen.
Und am Ende müssen wir trotzdem manchmal feststellen, dass wir einfach nichts mehr tun können.
Anmerkung der Redaktion: Wie im Online-Journalismus üblich, bearbeiten wir Überschrift und Anleser der von unseren externen Autoren veröffentlichten Inhalte redaktionell. Dabei nehmen wir auch in gewissem Umfang stilistische Korrekturen vor, aber keinerlei Einfluss auf die Inhalte des Textes.
Bildquelle: Mat Napo, Unsplash