Sexueller Missbrauch in der Familie ist ein Tabu und heute weit verbreitet, wie aktuelle Studien belegen. Die Opfer verschweigen, dass sie als Kinder oder Jugendliche von einem Familienmitglied missbraucht wurden. Viele Betroffene sind von erneuter Viktimisierung betroffen.
„Mein Körper gehört mir!“ und „Nein!“ sollen Kinder sagen, wenn sie einem Missbrauchstäter über den Weg laufen. Aufklärungskampagnen finden sich allerorts. Doch immer noch wird häufig das Bild entworfen, der Täter käme von außen und sei eindeutig böse. Seltsam geschwiegen wird zu der Tatsache, dass sexueller Missbrauch auch in der Familie stattfindet, dass sich die Grenzen zwischen Gut und Böse hier auflösen und dass das „Nein“ den Kindern weder in die Gedanken noch über die Lippen kommen kann. Sexueller Missbrauch in der Familie ist immer noch ein Tabu. Wie verschwommen das Thema „Inzest“ ist, zeigen allein die Zahlen zur Prävalenz: Sie schwanken zwischen 5 % und 62 %, da sie abhängig von der jeweiligen Kultur bzw. der geografischen Lage sind. „Sexueller Missbrauch beschreibt die Einbeziehung von Kindern und Jugendlichen in sexuelle Aktivitäten, die sie nicht vollständig erfassen können und bei denen sie entwicklungsbedingt außerstande sind, als gleichberechtigt agierende Person einzuwilligen“, schreiben Bernd Herrmann (Klinikum Kassel) und Kollegen in einem Fortbildungsartikel des Deutschen Ärzteblattes.
Wer nicht einwilligen kann, der kann auch nicht „Nein“ sagen. Die betroffenen Kinder sind seltsam im Geschehen gefangen. Der sexuelle Missbrauch ist kein eindeutiges Geschehen. Er kann von zarten Liebkosungen bis hin zur Vergewaltigung reichen. Manche Formen des sexuellen Missbrauchs sind für die Kinder also noch nicht einmal unangenehm. Erst später erwachen sie mit Schrecken und Trauer darüber, dass der Vater, der Bruder, die Schwester oder die Mutter sie dazu benutzt haben, ihre eigene sexuelle Erregung auszuleben. Auch der Begriff „sexuelle Gewalt“ aus Informationsblättern kann hier problematisch sein, denn die betroffenen Kinder empfinden das, was sie erleben häufig weder als „Missbrauch“ noch als „Gewalt“. Wenn sie später diese Begriffe lesen, fragen sie sich umso mehr, ob mit ihnen etwas nicht stimmt, oder ob sie früher etwas hätten merken sollen. Die Scham ist so groß, dass viele Opfer nie über das Erlebte sprechen. Oft kommen die Worte erst, wenn der missbrauchende Vater oder Bruder, die missbrauchende Schwester oder Mutter verstorben sind. Doch bis dahin leben viele in einem Klima der „Verschwörung“. Die Familienmitglieder wissen irgendwie Bescheid, aber keiner sagt oder tut etwas, um die Situation zu verändern – weil die Situation von innen heraus nur schwer erfasst und verstanden werden kann. Dies mag auch erklären, warum sich der Missbrauch oft jahrelang hinzieht.
Bethany Brand et al. (Towson University, Maryland, USA, 2003) befragten 101 Frauen, die Opfer von sexuellem Missbrauch in der Familie waren. Die meisten Studienteilnehmerinnen waren zwischen 29 und 48 Jahre alt. Sie hatten moderaten bis schweren Inzest erlebt. In rund 74 % der Fälle war der Vater bzw. der Stiefvater der Missbrauchende, gefolgt von Brüdern, Großvätern und Müttern. Im Mittel begann der Inzest im Alter von 6,8 Jahren und fand bis zum Alter von 16 Jahren statt. Der Missbrauch erstreckte sich durchschnittlich über sechs Jahre und fand 2,5-mal pro Woche statt. Rund 67 % der Frauen berichteten über oralen, vaginalen und/oder analen Verkehr. Die Penetration mit den Fingern erlebten 7,9 % der Frauen und über erotische Liebkosungen berichteten 22,8 % der Frauen. Zum Inzest körperlich genötigt wurden rund 35 % der Frauen, während knapp 40 % der Frauen davon berichteten, nicht genötigt oder bedroht worden zu sein. Die Aufforderung, nichts zu erzählen, erhielten knapp 13 % der Frauen. Als Spätfolgen zeigten sich erhöhte Stresslevel im Erwachsenenalter sowie Depressionen. Besonders schlecht ging es den Frauen, die früher versuchten, das Geschehen herunterzuspielen und die es vermieden, über das Problem nachzudenken. Allerdings berichteten die meisten Frauen darüber, dass sie mit dieser Coping-Strategie während des Inzests am besten zurechtkamen. Der Inzest wurde dann als weniger schlimm erlebt, wenn er geschah.
Das Klima der Verschwörung löst sich auch bei den Vorsorgeuntersuchungen beim Kinderarzt nicht auf. Unzähligen betroffenen Kindern können die Kinderärzte nichts anmerken. Alpträume und Schulversagen kommen zwar häufig bei Missbrauch vor, doch sind sie hierfür nicht spezifisch. Selbst bei Inzest mit Penetration lässt sich ein Missbrauch oft schwer erkennen, denn die Anogenitalregion heilt bei Verletzungen rasch. Allerdings können Unterbrechungen des Hymenalsaums zwischen 4 und 8 Uhr auf einen sexuellen Missbrauch hinweisen. Dennoch: „Die Verwendung des Begriffes ‚Virgo intacta‘ ist im Kontext des sexuellen Missbrauchs obsolet“, schreiben Herrmann et al. Während bei akzidentellen Verletzungen der Anogenitalregion rasch medizinische Hilfe in Anspruch genommen wird, wird der Arzt nach Inzesthandlungen mit Verletzungen – wenn überhaupt – meistens erst dann aufgesucht, wenn einige Zeit verstrichen ist. Hinzu kommt, dass auch Ärzte nur Menschen mit ihrer eigenen Geschichte sind. Kenneth C. Finkel et al. (McMaster University, Hamilton, Ontario, Kanada) führten 1985 auf einem Familienarzt-Kongress einen Survey mit 123 Ärzten durch. Dabei stellte sich heraus, dass 5 von 61 Ärzten und 16 von 52 Ärztinnen selbst Opfer sexuellen Missbrauchs waren.
Sexueller Missbrauch und Inzest findet in allen sozialen Schichten statt. Dennoch zeigten Ali Yildirim und Kollegen in ihrer Studie, dass Inzest besonders häufig in Familien mit niedrigem Bildungsgrad auf dem Lande vorkommt. Eine Alkoholabhängigkeit des Vaters erhöht das Risiko (Yldirim et al., 2014). Häufig ist zudem das Mutter-Tochter-Verhältnis gestört und die Tochter erhält generell wenig Unterstützung von der Mutter. Zudem wurden die Mütter sexuell missbrauchter Kinder häufig selbst missbraucht. Sie sind daher in vielerlei Hinsicht gelähmt: Erinnerungen an die eigene Geschichte kommen hoch und wollen verdrängt werden. Die Mütter wollen nicht wahrhaben, dass sie sich in einem ähnlichen Familienklima wiederfinden, in dem sie selbst groß geworden sind. So versuchen sie, auch den Missbrauch des eigenen Kindes zu verdrängen. Sie leiden selbst häufig noch unter den Folgen des eigenen Missbrauchs, der sich unter anderem in einem geringen Selbstwertgefühl und in erneuter Viktimisierung äußert.
Auch wenn das Leben eines Kindes in einer Familie viele Jahre „normal“ verlief: Wenn die Zeit der Pubertät anbricht, können neue Verunsicherungen auftreten. Durch die körperlichen Veränderungen der Tochter sind viele Väter verwirrt und verunsichert. Da inzestuöse Gedanken ein gesellschaftliches Tabu sind, fällt es ihnen schwer, eigene sexuelle Erregungen wahrzunehmen und mit ihnen angemessen umzugehen. Häufig kommt es dann vor, dass der Vater die eigene Verunsicherung umleitet und zum Beispiel abfällige Bemerkungen über die Brüste der Tochter macht. So wird die Scham des Vaters zur Scham der Tochter. Geht das Begehren über das "Normale" hinaus, gibt es heute bereits Hilfsangebote. Für Männer, die bemerken, dass sie sich sexuell stark zu Kindern und Jugendlichen hingezogen fühlen, hat das Universitätsklinikum Berlin Charité die Initiative „kein täter werden“ ins Leben gerufen. Doch Verunsicherungen kommen auch bei Müttern vor: Spüren sie Erregung, während sie das Baby stillen, fragen sie sich, ob sie „normal“ sind. Und auch Kinder können erregt und mit kindlichen Inzestphantasien beschäftigt sein. Die massiven Schuldgefühle von Inzest-Opfern kommen unter anderem dadurch zustande, dass sie sich daran erinnern, dass sie selbst als Kinder sexuelle Erregung empfunden haben. Zum anderen haben sie die Schuldgefühle übernommen, die eigentlich der Täter hätte fühlen müssen. Scham- und Schuldgefühle sowie Verwirrung sind bei den Inzest-Opfern so groß, dass es ihnen häufig schwerfällt, selbst befriedigende Beziehungen einzugehen. In einer Psychotherapie können die Betroffenen das Gefühls-Chaos sortieren.
Häufig besteht die psychotherapeutische Arbeit unter anderem darin, den Betroffenen wieder einen Zugang zu eigenen Wünschen nach Zärtlichkeit und Nähe zu eröffnen. Wer Opfer von Inzest wurde und sich selbst die Schuld zuschreibt, der verdrängt eigene Gefühle allzu gerne, damit „sowas“ nie wieder passiert. Dadurch schränken sich die Betroffenen sehr ein. Inzestopfer leiden als Erwachsene häufig an Depressionen und zeigen Zeichen der Posttraumatischen Belastungsstörung. Auch schwere Beziehungsstörungen wie zum Beispiel die Borderline-Störung können die Folge sein. Der Psychoanalytiker Otto Kernberg beschreibt ein Therapieziel, das Hoffnung gibt, aber oft viele Jahre psychoanalytischer Therapie erforderlich macht: „Die Wiederherstellung normaler Objektbeziehungen und der Fähigkeit zur Synthese von Liebe und Erotik ist das wichtigste Behandlungsziel bei der Arbeit mit Borderline-Patienten, und es ist auch ein realistisches Ziel bei der Behandlung von Perversionen.“ Aufklärungsarbeit ist in der Vergangenheit vielleicht manchmal über ihr Ziel hinausgeschossen, indem der moralisierende Zeigefinger so hoch erhoben war, dass manche Menschen sich nicht mehr trauten, über ihre „verbotenen“ Gefühle zu sprechen. Heute informieren Beratungsstellen auch über innerpsychische Vorgänge, wie zum Beispiel die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA).
Wie Ärzte vorgehen können, die familiären sexuellen Missbrauch bei einem Patienten vermuten, erklärt die Bundesärztekammer in ihrem Beitrag Vernachlässigung und Misshandlung von Kindern: Früherkennung und Prävention als ärztliche Aufgabe. Im Zweifel steht der Schutz des Kindes über der Schweigepflicht. „Der Schutz des Kindes und die Wahrung seiner Rechte auf eine gesunde Entwicklung sowie auf körperliche und seelische Unversehrtheit sind in der UN-Kinderrechtskonvention niedergelegt und sind ein höheres Rechtsgut als die ärztliche Verschwiegenheitspflicht und die Zustimmung der Sorgeberechtigten zur Informationsweitergabe“, so die AWMF-Leitlinie zu Kindesmisshandlung und Vernachlässigung.