Nach zwei Anläufen könnte es diesmal was werden mit dem ersten Amyloid-Antikörper, der die Progression der Alzheimer-Demenz bremst. Aber die Gretchenfrage bleibt: Wie relevant ist der Effekt?
„Statistisch signifikant, aber nicht klinisch relevant“ – das ist eine beliebte Formulierung, wenn es darum geht, Ergebnisse klinischer Studien zu relativieren, ob in der Virologie bei SARS-CoV-2 oder in der Inneren Medizin bei der Kontrolle kardiovaskulärer Risikofaktoren. Mit einer jetzt bei der „Clinical Trials on Alzheimer’s Disease“-Tagung (CTAD) vorgestellten und parallel im New England Journal of Medicine veröffentlichten Studie wird diese Formulierung wieder einmal aktuell. Es gibt seit Dienstag erstmals eine große klinische Studie, die für einen Antikörper gegen Beta-Amyloid einen statistisch eindeutigen Nutzen im Hinblick auf Kognitions-Scores zeigt. Der Neurologe Prof. Frank Jessen vom Universitätsklinikum Köln äußerte sich eindeutig: „Das ist ein Meilenstein der Alzheimer-Forschung.“
Kurze Rückblende: Die Amyloid-Hypothese bei der Alzheimer-Erkrankung besagt, dass die progredienten kognitiven Defizite bei dieser Erkrankung auf die Ablagerung von Amyloid-beta im Gehirn zurückgehen oder zumindest dadurch aggraviert werden. Sie hat inzwischen über drei Jahrzehnte auf dem Buckel und sie wird seit mindestens zwei Jahrzehnten hinterfragt. Besonders die einst als vielversprechende Alzheimer-Therapien gehandelten Gamma-Sekretase-Hemmer haben der Hypothese zugesetzt. Diese Medikamente bremsten nachweisbar die Amyloid-Bildung im Gehirn, steigerten aber nicht die geistigen Fähigkeiten der Patienten.
Letztlich hat die Amyloid-Hypothese die Gamma-Sekretase-Hemmer-Pleite (und anderes) überlebt. Die Hoffnungen ruhen aktuell auf Amyloid-Beta-Antikörpern, die zwischenzeitig auch schon einmal fast abgeschrieben waren, bis dann der Antikörper Aducanumab eine bemerkenswerte Studien- und Zulassungskarriere hinlegte. Zwei große klinische Aducanumab-Studien waren wegen Erfolglosigkeit abgebrochen worden. Im Nachgang fanden sich dann Hinweise auf Wirksamkeit in Subgruppen, was zu einer umstrittenen FDA-Zulassung führte. Das Medikament von Biogen kam in den USA auf den Markt – und floppte. Es war enorm teuer, was dazu führte, dass Medicare die Erstattung drastisch einschränkte. In Europa zog Biogen den Zulassungsantrag im April 2022 zurück, nachdem die EMA signalisiert hatte, dass ihr die Daten nicht reichen würden.
Damit nicht genug der schlechten Nachrichten: Mitte November teilte das Unternehmen Roche mit, dass es sein Entwicklungsprogramm mit dem Amyloid-Antikörper Gantenerumab einstellt (DocCheck berichtete). Dem voraus ging eine Pressemeldung, wonach das Medikament in den Phase III-Studien GRADUATE I und II den primären Endpunkt verfehlt hatte. Behandelt worden waren Menschen mit leichter kognitiver Beeinträchtigung (MCI) und Nachweis von Amyloid. Beim primären Endpunkt, dem Demenz-Score „Clinical Dementia Rating-Sum of Boxes“ (CDR-SB), gab es im Vergleich zu Placebo eine relative Verringerung der klinischen Verschlechterung um 6 % bis 8 %, was nicht signifikant war.
Damit hatte sich einer der Amyloid-Antikörper-Hoffnungsträger selbst aus dem Rennen genommen, der andere – Aducanumab – befindet sich zumindest in einem Interregnum. Die FDA verlangt von Biogen hier eine weitere klinische Studie, die bisher noch nicht vorliegt. Wie es mit Aducanumab weitergeht, ist derzeit unklar. Denn: Es gibt einen neuen Antikörper. Ende September 2022 hatte Lecanemab, ein Produkt von Aducanumab-Hersteller Biogen zusammen mit Eisai, für Aufregung gesorgt. Per Pressemeldung wurde mitgeteilt, dass die Rate der kognitiven Verschlechterung im Vergleich zu Placebo in der Phase III-Studie CLARITY-AD um signifikante 27 % verringert worden sei.
Die vollständigen Daten liegen jetzt vor. Die CLARITY-AD Studie war eine 18-Monats-Studie, an der 1.795 Menschen mit MCI oder milder Demenz teilgenommen hatten, bei denen entweder im PET oder in der Liquorpunktion Amyloid nachgewiesen worden war. Randomisiert wurde im Verhältnis 1 zu 1 zu entweder intravenösem Lecanemab (10 mg/kg alle 2 Wochen) oder Placebo-Infusionen. Primärer Endpunkt war erneut das Abschneiden beim CDR-SB-Score, der von 0 bis 18 geht, wobei die kognitive Störung umso ausgeprägter ist, je höher der Wert ist. Sekundär wurde u. a. der bekannte ADAS-cog14 erhoben, mit einer Skala von 0 bis 90, je höher desto schlechter, außerdem der Alzheimer’s Disease Composite Score (ADCOMS). Zusätzlich wurde bei eine großen Subgruppe von 698 Patienten die Amyloid-Last per PET ermittelt.
Die Ergebnisse sind, siehe oben, statistisch signifikant. Der mittlere CDR-SB Score lag in beiden Gruppen zu Studienbeginn bei 3,2 Punkten. Bis zu 6 Punkte gelten als frühe Alzheimer-Erkrankung. In der Lecanemab-Gruppe verschlechterte er sich innerhalb von 18 Monaten um 1,21, in der Vergleichsgruppe um 1,66 Punkte, ein hoch signifikanter Unterschied (95 % CI -0,67 bis -0,23; p < 0,001). Bei den sekundären Endpunkten sah das ähnlich aus. Der modifizierte ADAS-cog14 lag zu Studienbeginn bei 24,45 in der Lecanemab- und 24,37 in der Placebo-Gruppe. In der modifizierten ITT-Analyse ging es um 4,14 bzw. 5,58 nach oben, auch das ein hoch signifikanter Unterschied (95 % CI -2,27 bis -0,61; p < 0,001). Geradezu krachend war der Unterschied in der PET-Subgruppe. Der mittlere Amyloid-Level zu Studienbeginn betrug 77,92 Centiloid in der Lecanemab- und 75,03 Centiloid in der Placebo-Gruppe. In der Verum-Gruppe ging es in 18 Monaten um 55,48 Centiloid nach unten, bei Placebo um 3,64 Centiloid nach oben (95 % CI -62,64 bis -55,60; p < 0,001).
Angesichts der Lecanemab-Daten stellen sich gleich mehrere Fragen. Zum einen: Warum funktioniert bei Lecanemab, was bei Gantenerumab nicht und bei Aducanumab jedenfalls nicht in dem Umfang funktionierte? Eine mögliche Erklärung ist, dass Lecanemab eine andere Art Antikörper ist. Aducanumab beispielsweise ist ein humaner monoklonaler Antikörper, der sich gegen aggregierte lösliche und unlösliche Formen des Beta-Amyloids richtet. Lecanemab dagegen ist ein humanisierter Mausantikörper, der Amyloid-Protofibrillen bindet. Ist das möglicherweise effektiver? Und wenn ja, sind andere frühe Antikörper, die noch in Studien sind, etwa Donanemab von Lilly, vielleicht ähnlich effektiv oder noch effektiver?
Die andere Frage, die sich stellt, ist die der klinischen Relevanz: Ist ein CDR-SB-Unterschied von 0,45 Punkten über 18 Monate klinisch relevant, oder eben doch „nur“ statistisch signifikant? Prof. Jessen aus Köln hat hier eine eindeutige Meinung: „Wenn das wegen der Effektstärke nicht anerkannt würde, dann wäre das gegenüber den Betroffenen nicht zu verargumentieren. Es wäre ein Schlag ins Gesicht für alle, die diese Krankheit haben.“ Er erwartet eine europäische Zulassung von Lecanemab im Laufe des Jahres 2023. In den USA könnte es schneller gehen: Die FDA will über eine Notfallzulassung schon am 6. Januar diskutieren.
Jessen betonte in einem Pressegespräch des Science Media Centers aber auch, dass weder Lecanemab noch andere künftige Amyloid-Antikörper Wundermittel seien. Die Therapie bringe die Erkrankung nicht zum Stillstand oder gar zum Rückgang, sondern bremse lediglich die Verschlechterung. Sie komme zudem nur für einen Bruchteil der Patienten in Frage – jene, die in den frühen symptomatischen Erkrankungsstadien sind.
Und auch von diesen frühen Patienten werden wahrscheinlich nicht alle geeignet sein. In den letzten Tagen gab es Berichte zu zwei Todesfällen im Zusammenhang mit Lecanemab, beides in Folge von Hirnblutungen. Zu dem einen Todesfall kam es bei einem Lecanemab-Patienten, der einen Schlaganfall erlitten und dann zusätzlich eine Lysetherapie erhalten hatte. Der andere Patient hatte blutgerinnungshemmende Medikamente eingenommen. Vor diesem Hintergrund sei es denkbar, dass entsprechende Patienten von der Anwendung des Antikörpers ausgeschlossen würden.
Das zweite Thema bei den Amyloid-Antikörpern sind die so genannten ARIA-E, die „Amyloid-Related Imaging Abnormalities“. Sie traten bei 12,6 % (Lecanemab) bzw. 1,7 % (Placebo) der Patienten auf, symptomatisch waren sie bei 2,8 % bzw. 0 %. ARIA-E gelten als ödematöse Veränderungen, die möglicherweise als Folge toxischer Amyloid-Abbauprodukte entstehen. Ihre langfristige Relevanz ist unklar, aber sie erfordern, dass die Patienten, die mit diesen Therapien behandelt werden, überwacht werden, zum Beispiel mittels MRT. Dass das eine relevante logistische Herausforderung sein dürfte, ist ein weiteres Thema, das auf die Alzheimer-Versorgung jetzt zukommen könnte.
Bildquelle: Raghavendra V. Konkathi, unsplash