96 Prozent der Hausarztpraxen sind mittlerweile an die Telematik-Infrastruktur angeschlossen – gut die Hälfte von ihnen haben regelmäßig Probleme mit der Technik. Wir haben uns umgehört.
Auf 260 Seiten beschreiben die Herausgeber des E-Health-Monitors 2022 „Deutschlands Weg in die digitale Gesundheitsversorgung“. Die von McKinsey herausgegeben Studie bescheinigt dem deutschen Gesundheitswesen darin einen ausbaufähigen Status quo – was auch sonst.
Die Pulsfühlung der Autoren beginnt dabei mit einer Übersicht zu den Voraussetzungen und Rahmenbedingungen der Digitalisierung. Insbesondere die politischen Vorgaben und Ziele für das Gesundheitswesen seien Motor für die letztlich sehr hohe Vernetzung (96 % der Arztpraxen und 99 % der Apotheken sind angeschlossen). Dass aber Sanktionen und Bußgelder bei Nichtanschluss die Digitalisierung vorangetrieben haben, sollte man vielleicht nicht vergessen. Ob man mit dieser Art der „Überzeugung“ nicht auch einem gewissen Unwillen Vorschub leistet, wird sich herausstellen. Der aktuelle Stand der zentralen TI-Anwendungen wie auch die allwöchentlichen technischen Probleme mit Konnektoren und weiterer Technik sorgen unterdessen weiter für Skepsis in der Ärzteschaft.
„Wir können die Statistik nachvollziehen und gehören leider zu den 50 % der Praxen, die mit wöchentlichen Problemen der TI zu kämpfen haben – sei es mit verbundenen PC-Neustarts oder den dauerproblematischen Konnektoren. Es ist wirklich sehr ärgerlich und kostet definitiv Zeit, bestimmt 10 bis 15 Minuten am Tag, wenn denn alles glatt geht“, bestätigt Kölner Hausarzt Dr. Tim Knoop.
Auch der ärztliche Praxisbericht, der im Report angehangen ist, bestätigt die Ausfälle: „Partielle oder komplette Praxisunterbrechungen während der Kernarbeitszeit, um den Konnektor, einzelne betroffene Rechner oder häufig den Server mit allen Rechnern neu zu starten. Derartige Probleme treten im günstigen Fall ‚nur‘ einmal pro Woche auf. Es gibtkeine Praxismitarbeitenden, die durch diese Arbeitserschwernis nicht belastet sind“, so Dr. Ulrich von Rath, Allgemeinmediziner aus Travemünde.
Und es kommt noch dicker: Denn was dem statistischen Teil des Reports bei allen Zahlen und Statistiken abhandenkommt, sind zusätzlich die Umstände, die Ärzte Zeit und Geduld bei Implementierung der Technik kosten. Das ist auch für diejenigen so, die eigentlich vom Gesamtkonzept überzeugt sind. Dr. Jana Husemann, Fachärztin für Allgemeinmedizin aus Hamburg, zum tatsächlichen Zeitaufwand, den Technikprobleme wie abgestürzte Systeme oder neu zu startende Konnektoren mit sich bringen: „Dazu kommt, dass die technischen Probleme einen Rattenschwanz nach sich ziehen. Viel länger als die tatsächlichen Probleme in der Praxis sind teilweise die Warteschleifen und Abstimmungen mit IT und Technik im Nachgang.“
Weiteres Augenmerk legt der Report verständlicherweise auf die Aushängeschilder und großen Hoffnungen der Digitalisierungsversuche – elektronische Patientenakte (ePa) und E-Rezept. Aktuell sind beide noch eher mäßig verbreitet im deutschen Gesundheitswesen. Allein die ePa ist mit insgesamt 135.000 verwalteten Dokumenten ein Flop – denn diese Zahl entspricht gerade einmal 0,7 % der gesetzlich Versicherten. Dabei liegt laut den Experten gerade hier der Goldschatz, nämlich ein geschätzter potenzieller Nutzen von rund 7 Milliarden Euro.
Ein ähnliches Bild zeigt sich beim E-Rezept. Hier wurden im Laufe eines Jahres beispielsweise 550.000 E-Rezepte verschickt – von ca. 760 Millionen Rezepten insgesamt. Gleichzeitig erscheinen tatsächliche Handhabung und praktischer Ablauf in den Praxen eher absurd. „Was die grundlegenden TI-Anwendungen angeht, haben wir sehr unterschiedliche Erfahrungen gemacht. Die eAU funktioniert tatsächlich sehr gut und die Patienten nehmen diese gut an. Beim E-Rezept wurde hingegen das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Einen DinA4-Zettel auszudrucken, um einen QR-Code weiterzugeben, ist dermaßen ineffizient – da bleibe ich lieber bei den kleinen Rezepten, das ist im Zweifel günstiger“, erklärt Hausärztin Dr. Sandra Masannek.
Gleichzeitig zeigt Masannek damit den ärztlichen Willen auf, den Umbruch mitzugehen, die Vorteile zu nutzen und die Anwendungen einzubringen, wo und wie es möglich ist. Auch Knoop erkennt den potenziellen Mehrwert im Praxisalltag an – insbesondere die grundlegenden Anwendungen hätten ihre Berechtigung. „Der elektronische Arztbrief ist in seinem Konzept auch eine sinnvolle Digitalisierungsmaßnahme. Wir nutzen ihn wo und wann es möglich ist und er kann uns tatsächlich im Workflow weiterbringen. Wenn er dahingehend erweitert würde, dass beispielsweise Ultraschallauswertungen oder andere E-Devices eingepflegt würden, hat er großes Potenzial, eine enorme Zeitersparnis zu werden.“
Dass Digitalisierung aber auch mehr bedeutet als eine elektronische Struktur vorzuhalten, hat nicht zuletzt Corona gezeigt und befeuert. Termine wurden online gebucht, der Arzt erschien auf dem Bildschirm im Wohnzimmer – alles im Namen eines zu reduzierenden Infektionsrisikos. Auch der Report macht auf den Pandemie-Effekt in dem Bereich aufmerksam und registriert für 2021 3,5 Millionen Video-Sprechstunden – ein Anstieg um 29 Prozent.
Doch schon jetzt wird auf ein mögliches rasches Absinken der Zahlen hingewiesen; eine Entwicklung, die manche Ärzte bereits erleben. „Was Anwendungen wie Online-Terminvergaben oder Video-Sprechstunden betrifft, haben wir sehr unterschiedliche Erfahrungen gemacht. Während wir unsere Termine hauptsächlich online organisieren und dies auch in Zukunft noch verstärken wollen, kommen Video-Sprechstunden bei uns gar nicht an. Wir haben – besonders in Corona-Zeiten – viel Werbung dafür gemacht, aber die Nachfrage war nie besonders groß“, erklärt Dr. Jana Husemann, die mit ihrer Praxis auf St. Pauli vornehmlich jüngere, vermeintlich affine Patienten hat.
Gleichzeitig zeichnet Knoop ein Bild, das den noch anhaltenden Boom widerspiegelt: „Die Video-Sprechstunden sind seit Corona tatsächlich nicht mehr wegzudenken. Wir hatten vor der Pandemie 0 videobasierte Sprechstunden pro Quartal, in der Pandemie gut 1.000, kurz nach dem Höhepunkt etwa 500 und nun kommen wir langsam wieder zu 1.000 Anfragen. Wir haben aber auch die Erfahrung gemacht, dass es stark vom Angebot abhängt, das man seinen Patienten bietet – und von der angesprochenen Alterskohorte. Jüngere, gut aufgeklärte Patienten haben das vielleicht noch etwas mehr für sich entdeckt als Ältere.“
Dass die Zukunft der Videosprechstunde zentral an den Faktoren Angebot und Annahme hängt, ist offensichtlich. Hier zeigen die Auswertungen eine Tendenz, wonach sich die Patienten weniger Video-Sprechstunden mit ihrem Arzt als vielmehr funktionierende Online-Terminvergaben (66 % der Befragten), digitale Rezeptbestellungen (58 %) und digitale Befundmitteilungen (55 %) wünschen.
Ein weiteres Feld der Digitalisierung ist das der Digitalen Gesundheitsanwendungen (DiGa). Hier zeichnet der Report ein ausgesprochen ernüchterndes Bild der gegenwärtigen Lage – so ist nur 1 von 9.000 Verordnungen in 2021 eine DiGa, nur 4 % der Ärzte haben darauf zurückgegriffen und nur 14 % glauben überhaupt an einen verbesserten Therapieerfolg mit digitalen Anwendungen. Dagege stehen 86 % der Nutzer, die positive Erfahrungen gemacht haben. Nimmt man sich also die Gesundheits-Apps aus dem weiten Feld Digitalisierung heraus, mag das erklären, weshalb die Zahlen nicht rasant ansteigen. Hier ist es die ärztliche Seite, die den Erfolg eher in bestimmten Sparten sieht, statt als allumfängliches Erfolgsmodell.
Auch Husemann, die gleichzeitig stellvertretende Sprecherin der AG Digitales im Hausärzteverband ist, sieht zwar den grundsätzlichen Nutzen – jedoch weniger im eigenen Praxisalltag. „Mit Blick auf Digitale Gesundheitsanwendungen wie Apps kann ich für unsere Praxis sagen, dass da noch nicht der große Wurf bei war. Wir haben vereinzelt Apps getestet, diese aber eher zur Unterstützung. Häufig halten es die Patienten einfach nicht bis zum Ende aus und brechen die webbasierten Dienste ab. Ich glaube aber, dass es in Einzelfällen – beispielsweisebei sozialen Phobien – konkreten Nutzen haben kann, wenn der Patient nicht noch in eine andere Praxis muss und niedrigschwellig schon eine Behandlung begonnen werden kann.“
Eine Erfahrung, die Masannek teilt: „In Sachen Apps haben wir relativ wenig Erfahrung gemacht. Ich sehe aber den Nutzen – insbesondere beispielsweise bei Depressions-Apps, wenn ansonsten wahnsinnig lange Wartezeiten für Termine anstehen. Wenn man beispielsweise erst in 4 oder 6 Wochen einen Psychotherapie-Termin bekommt, kann eine App zur Überbrückung schon sinnvoll sein.“
Zum Schluss bleibt: Der im E-Health-Report gezeichnete Zwischenstand beleuchtet alle Seiten der Digitalisierung – im Guten wie im Schlechten. Aus den reinen Zahlen lässt sich am Ende aber nur schwer ableiten, wo die Reise hingeht, zumal politische Rahmenfragen weit größer gestellt werden müssen, was auch Fazit des Reports ist. „Letztlich wird das gesamte Feld der Digitalisierung aber auch durch die gegenwärtige Personalpolitik ausgebremst. Wenn uns die Leute vorne und hinten fehlen, kann ich nicht einfach wen zu einer Schulung schicken oder anderweitig einsetzen, um neuartige Prozesse zu lernen, wenn dann der laufende Betrieb aufgehalten wird“, nennt Masannek einen entscheidenden Faktor zur Voraussetzung des Gelingens.
On top könnte man sich von politischer Seite schon die Mühe machen, die Ärztesicht zu verstehen und eine praktische Umsetzung zu garantieren. Auf eben diese Versäumnisse weist auch Husemann hin und appelliert: „Mittlerweile macht die Gematik beispielsweise Praxis-Hospitationen und schaut, wie die Abläufe in Praxen eigentlich aussehen und wie die Systeme im Praxisalltag funktionieren – aber das ist recht spät. Immerhin ist aber nun der Groschen gefallen und ich hoffe, dass man uns bei künftigen Entscheidungsprozessen frühzeitig mit einbezieht. Dennoch sollten wir darauf vertrauen, dass es besser und uns auch Zeit- und Kostenersparnisse bringen wird. Ich würde an meine skeptischen Kollegen appellieren, ihre Blockadehaltung aufzugeben, da Verweigerung auf dem Feld wirklich nichts bringt. Gleichzeitig aber auch von der Politik fordern, auf Sanktionen zu verzichten, dass die Mehrkosten durch die TI-Strukturen für Praxen vollständig erstattet werden und dass Anwendungen erst breit ausgerollt werden, wenn sie auch wirklich funktionieren.“
Um das Potenzial zu erkennen, reicht es am Ende, sich in der Praxis umzuschauen. Da bedarf es nicht unbedingt der Lektüre eines 260-seitigen Berichts. „Ich glaube letztlich, dass wir an der Digitalisierung nicht mehr vorbeikommen. Und ja, sie kann auch eine wesentliche Ressourcen- und Kostenersparnis sein – denke man an die wegfallenden Drucker, Toner, Papier, Strom. Zu gegenwärtigen Zeitpunkt ist es aber erst einmal ein Investment in die Zukunft, das sich vielleicht erst in 2 bis 3 Jahren auszahlt“, so Knoop, der damit stellvertretend für seine Kollegen sprechen dürfte.
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