Wenn es um den Fachbereich Gynäkologie geht, denkt man(n) viel zu oft bloß an Reproduktionsmedizin, kritisiert eine aktuelle Studie. Warum viele weitere Facetten der Frauengesundheit häufig zu kurz kommen.
Rund die Hälfte aller gynäkologischen Fachzeitschriften beschäftigt sich ausschließlich mit dem Thema Reproduktionsmedizin. Die Fruchtbarkeit der Frau und ihre Fähigkeit, sich fortzupflanzen, bestimmt so mit weitem Abstand das wissenschaftliche Feld, wie eine Studie jetzt analysiert. Nur 12 % der fachlichen Journals rücken die Gesundheit der Frauen unabhängig von ihrer Rolle als (potenzielle) Mutter in den Fokus. Noch schmaler wird der Katalog, wenn es um die Zeit vor und nach der fruchtbaren Phase geht: Lediglich 4 % aller infrage kommenden Journals befassen sich mit diesen Themen – Menopause eingeschlossen.
Der Grund dafür ist eindeutig, so die Autorin: Forschung und Klinik seien auch im Bereich Gynäkologie in männlicher Hand. Der entstehende Gender Bias – allgegenwärtig. „Die geschlechtsspezifische Zusammensetzung der Führungsriege in den gynäkologischen Berufen muss sich ändern und die Stimme der Patientinnen muss als einzige Autorität in Fragen ihres eigenen Körpers gehört werden. Die jahrhundertelang vernachlässigte Forschung über die Gesundheit von Frauen muss ausgebaut werden“, sagt Dr. Netta Avnoon, Fachbereich Soziologie und Anthropologie an der Universität Tel Aviv.
Seit Jahrhunderten würden Aspekte der Frauengesundheit schlicht ausgelassen, obwohl sie wichtiger für das Leben einer Patientin sein können als die Fähigkeit, Kinder zu gebären. Die Autorin nennt hier beispielsweise Geschlechtskrankheiten, Lustempfinden, Rechte und Autonomie bei der Geburt, Krankheiten und Schädigungen der Muskeln und Nerven des Beckens und der Geschlechtsorgane, den Zusammenhang zwischen Menstruationszyklus und Immunsystem sowie die Zeit der Menopause. Diese großen Komplexe bekommen damit weder in der Forschung noch in der Praxis die gebührende Aufmerksamkeit.
Avnoon betont, dass viele Männer sich des bestehenden Bias womöglich gar nicht bewusst sind, aber er dennoch eine lange Tradition hat – und problematisch ist. „Männer haben die Gynäkologie fast tausend Jahre lang dominiert und ihre Geschlechtsidentität wirkt sich auf alles aus, was in diesem Fachgebiet geschieht, einschließlich Forschungsdesign und medizinische Praktiken. Selbst wenn sie sich ihrer eigenen Voreingenommenheit nicht bewusst sind und die besten Absichten haben, betrachten Männer den weiblichen Körper traditionell als ein Objekt zur Zeugung von Babys oder zur Befriedigung der sexuellen Wünsche von Männern“, so die Forscherin.
Für ihre Studie hat Avnoon die Namen etablierter gynäkologischer Fachzeitschriften mithilfe des Journal of Citation Reports, einer Datenbank, die Informationen über wissenschaftliche Zeitschriften weltweit enthält, untersucht. Sie fand 83 Journals, die in der entsprechenden Kategorie gelistet waren. Ihre Ergebnisse sind eindeutig:
Wie sich diese Überbetonung eines Aspekts in der Praxis auswirken kann, erläutert Avnoon anhand eines aktuellen Beispiels. Die FDA verbot 2019 die Verwendung transvaginaler Netze, weil der Benefit für die Gesundheit der Patientinnen unklar sei. Die Meshes werden seit den 1950er Jahren bei Beckenorganvorfällen eingesetzt und hatten in den USA zu einer hohen Morbidität und 77 dokumentierten Todesfällen geführt. Erst das Engagement betroffener Patientinnen habe die Behörde zum Eingreifen veranlasst, so Avnoon. Jahrelang habe die Wissenschaft bei der klinischen Bewertung der Behandlungsergebnisse versagt – und Ergebnisse seien von voreingenommenen Wissenschaftlern präsentiert worden.
Avnoon macht konrekte Änderungsvorschläge: „Die Geburtshilfe, die sich mit Fruchtbarkeit, Fortpflanzung, Schwangerschaft, Fötus und Geburt befasst, sollte von der Gynäkologie, einem Fachgebiet, das sich mit der Gesundheit der Frau befasst, getrennt werden. Die Betreuung des Fötus, die schon an sich essenziell ist, darf nicht auf Kosten der Gesundheit der Mutter gehen.“ Außerdem sollten die gynäkologische Ausbildung und medizinische Abläufe grundlegend überarbeitet werden, damit sie die Bedürfnisse der Frau selbst in den Vordergrund stellen – „und nicht die ihrer Babys, ihrer Ehepartner oder ihrer Ärzte“, so Avnoon.
Es sei an der Zeit für eine frauenbestimmte Gynäkologie. Denn obwohl immer mehr Frauen als Ärzte verschiedenster Fachrichtungen arbeiten, basiere ihre Ausbildung nach wie vor auf männlich geprägtem Wissen und chauvinistischen Traditionen, kritisiert die Autorin. Für einen tatsächlichen Wandel des Feldes müsste man schon hier ansetzen und Ärzte so ausbilden, dass die Rechte, Gesundheit und Sexualität der Frau den fachlichen Schwerpunkt der Gynäkologie ausmachen. „Es ist an der Zeit, dass die Frauen die Disziplin beherrschen, die sich um ihre Gesundheit kümmern soll.“
Bildquelle: Alicia Petresc, unsplash