Wie erwartet, schnellen derzeit die RSV-Fallzahlen in die Höhe. Die DIVI warnt: Die Lage in den Kinderkliniken ist katastrophal. Welcher Weg führt raus aus der Misere?
Alle Jahre wieder wird es knapp auf den Kinderintensivstationen. Pünktlich zur Erkältungssaison mehren sich die RSV-Infektionen, von denen grob 2 % im Krankenhaus behandelt werden müssen. Nachdem im Winter 2020/21 die RSV-Welle durch die Corona-bedingten flächendeckenden Infektionsschutzmaßnahmen praktisch ausgefallen ist, kam das Virus im letzten Herbst bereits mit voller Wucht zurück – heftiger und auch früher als sonst üblich. Auch dieses Jahr rechneten Experten schon mit einer ähnlich kritischen Lage und warnten schon im September vor überlasteten Kinderintensivstationen (wir berichteten). Und sie haben recht behalten: Die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) schlägt lautstark Alarm.
Laut RKI steigen in ganz Deutschland die Fallzahlen akuter Atemwegserkrankungen bei Kindern im Alter von bis zu 4 Jahren extrem an. Die Zahlen liegen dabei deutlich über dem Vorjahresniveau und auch über dem der Jahre vor der Corona-Pandemie. Mediziner sind ratlos und wissen nicht, wo und wie ihre jüngsten Patienten noch versorgt werden sollen. Denn: Die Kliniken sind voll.
Auf einer Pressekonferenz stellte die DIVI heute morgen ihre aktuellen Zahlen vor. Eine Ad-Hoc-Umfrage unter 110 Kinderkliniken vom 24. November ergab, dass zwar theoretisch unter optimalen Bedingungen 607 Bettplätze zur Verfügung stünden. In der Realität fehlt allerdings das nötige Personal, um diese Betten auch zu betreiben, und so sind 40 % davon nicht belegbar. Zieht man nun noch die bereits belegten Plätze ab, bleiben ganze 83 freie Betten in ganz Deutschland – weniger als 1 Bett pro Klinik. Jede zweite befragte Klinik berichtete, dass sie in den letzten 24 Stunden mindestens 1 Kind nach Anfrage durch eine externe Klinik für die Kinderintensivstation ablehnen musste.
Die Folge: Enorme Wartezeiten für die jungen Patienten und ihre Eltern, planbare Operationen müssen verschoben werden, und teils müssen Patienten schon auf andere, schlechter ausgestattete Stationen verlegt werden. DIVI-Generalsekretär Prof. Florian Hoffmann, Oberarzt in der Haunerschen Kinderklinik München, erzählt, dass in den letzten Wochen seine Station regelmäßig überbelegt war, weil sich in der gesamten Umgebung kein freies Bett in einer Kinderstation finden ließ „Wenn das mal ein Tag im Jahr wäre, dann ist das kein Problem – wir sind krisengefestigt.[…] Wenn man aber immer über dem Limit fährt, dann nagt das auf lange Zeit an der Qualität.“
Überlebenswichtige Operationen wie Organtransplantationen konnten von Maximalversorgern schon vorher nicht mehr in jedem Fall gewährleistet werden, gibt Dr. Michael Sasse, leitender Oberarzt der Kinderintensivmedizin an der medizinischen Hochschule Hannover, zu bedenken. Die aktuelle RSV-Welle verschärfe die Situation zusätzlich. Er fasst zusammen: „Die Situation ist so prekär, dass man wirklich sagen muss: Kinder sterben, weil wir sie nicht mehr versorgen können“
„Das ist kein momentanes Problem, sondern das ist ein Problem, das sich über die letzten Jahre wirklich aggraviert hat“, stellt Hoffmann fest. Zwar fällt die RSV-Welle durch Nachholeffekte aus der Pandemie dieses Jahr deutlich stärker aus als gewöhnlich, aber der Kern des Problems sind über die Jahre geschrumpfte Versorgungskapazitäten. Prof. Sebastian Brenner, Leiter der Kinderintensivmedizin der Uniklinik Dresden erläutert das Problem näher: „Wir haben einen kritischen Pflegemangel […]. In dieser Situation ist das Pflegepersonal, aber auch viele von uns Ärztinnen und Ärzten am Limit.“ Betten würden betrieben, ohne weitere Ressourcen für zusätzliche Notfälle zu haben.
Der Personalmangel ist nicht nur auf das Pflegepersonal beschränkt, auch Ärzte fehlen oder reduzieren aufgrund der hohen Belastung ihre Stunden. Viel Zeit und Aufwand, die auf die Arbeit am Patienten verwendet werden könnten, gehen an der Dokumentation verloren. Zudem lässt die digitale Ausstattung zu wünschen übrig, Schnittstellen zwischen Systemen fehlen und daher müssen Befunde händisch übertragen werden – was nicht nur Zeit kostet, sondern durch Übertragungsfehler auch die Patienten Sicherheit gefährdet. Auch fehlende Ausfallkonzepte verschärfen den Personalmangel.
Dazu kommt die hohe psychosoziale Belastung für ärztliches und pflegendes Personal, die die Arbeit mit den pädiatrischen Patienten birgt, die nur schwer oder gar nicht abgefangen werden kann. Julia Daub, Intensivpflegekraft an der Uniklinik Tübingen, beschreibt: „Die Hochkomplexität der Fälle, in Kombination mit dem geringen Personal, […] führt zu dieser ständigen Überforderung. Wir arbeiten nicht nur am Limit, sondern wir arbeiten über unser Limit hinaus“. Das wiederum hat auch einen erhöhten Krankenstand in der Intensivmedizin zur Folge. „Das ist eine Abwärtsspirale, in der wir uns befinden.“
Hohe Belastung, inadäquate Bezahlung, keine verlässliche Dienstplanung – da ist es kein Wunder, dass Fachkräfte ihre Stunden reduzieren oder dem Berufsfeld ganz den Rücken kehren. Auch Nachwuchs lässt sich so nur schwerlich locken. Nun geht es der DIVI auf der Veranstaltung aber nicht nur darum, Probleme aufzuzeigen, sondern auch Lösungsansätze zu bieten. Brenner: „Wir lieben unseren Beruf, und wir sind nicht hier um zu jammern. […] Wir wollen die Situation so verbessern, dass wir die Versorgung optimieren können im Sinne unserer Patienten.“
Dr. Karin Becke-Jakob, Chefärztin der Anästhesie an der Cnopfschen Kinderklinik Nürnberg, stimmt dem zu: „Wir müssen in Richtung Lösungen denken.“ Kurzfristig kann Becke-Jakob zufolge nur helfen, die Behandlungen konsequent zu priorisieren und gegebenenfalls strikt zu reduzieren, wenn die Personalkapazitäten ausgereizt sind. „Das fällt uns natürlich schwer, geplanten Patienten abzusagen, aber wir brauchen eben auch diesen Puffer für die wirklichen Notfallpatienten.“ Auch Unterstützung und Zusammenarbeit mit anderen Abteilungen sind gefragt. Langfristig stehen Modelle zur Haltung und Neugewinnung von Mitarbeitern im Fokus. „Wir brauchen moderne Arbeitsmodelle, wir brauchen eine verlässliche Dienstplanung“, betont Becke-Jakob.
Weiterhin sieht die DIVI Potenzial in der Entlastung des Pflegepersonals, bei Aufgaben wie der Reinigung von Patientenzimmern und der Basispflege. Diese bindet zu viel Zeit von eigentlich hochspezialisierten Fachkräften, könnte aber eigentlich auch durch Pflegeassistenten und Reinigungskräften erledigt werden. „Wir brauchen die gute und hochqualifizierte Pflege für die kritisch kranken Patienten, und nicht für pflegeferne Aufgaben. Dann haben wir wieder Zeit, uns dem zu widmen, was wir eigentlich machen wollen“, so Brenner.
Wichtige Bausteine sind auch psychologische Unterstützungsprogramme, verbesserte Aus- und Fortbildungsbedingungen und – last, but not least – auch die bessere Bezahlung der Pflegekräfte. Sasse sagt deutlich: „Pflegepersonal ist für meine Begriffe deutlich unterbezahlt.“ Das sei auch eine Frage der gesellschaftlichen Prioritätensetzung: Wenn die Kinder unserer Gesellschaft sehr wichtig seien, dann müssten wir auch ihre Pflegenden deutlich besser bezahlen, damit sie dieser Aufgabe nachkommen könnten. „Und da ist noch viel, viel Luft nach oben.“
Letzen Endes ist für eine Lösung des Dilemmas also die Politik gefragt: Das Fallpauschalensystem benachteiligt die Kindermedizin, da der höhere Behandlungsaufwand nicht mit eingerechnet wird. Zudem haben die Intensivkliniken hohe Vorhaltekosten, die bisher nicht adäquat erstattet werden. Die DIVI fordert, dies im Abrechnungssystem besser zu berücksichtigen. Von Gesundheitsministerium wurde zwar zuletzt eine Erhöhung der Fallpauschalen zugesagt, aber das Geld, was so zusätzlich in den Kliniken ankommt, muss auch an den richtigen Stellen eingesetzt werden. Es müssen Weichen für die Zukunft gestellt werden – nicht nur bestehende Löcher gestopft werden.
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