Ein niedriger Melatonin-Spiegel, erhöhte Muskelaktivität und Schlafstörungen als Folge – an all dem soll Blaulicht schuld sein. Was ist dran?
20 bis 30 Prozent der Deutschen leiden gelegentlich unter Schlafstörungen – so die Angaben der Deutschen Gesellschaft für Schlafforschung und Schlafmedizin (DGSM). Rund 4,8 Millionen Menschen, also ca. 6 Prozent, leiden unter chronischen Schlafstörungen, Tendenz steigend. Irgendwo muss also der Bösewicht lauern, der uns die Nächte klaut. Für viele Studien ist ebendieser vermeintlich ausgemacht: das Blaulicht von technischen Geräten.
Kurzwelliges Licht wie es von Smartphones, eBooks und anderen technischen Geräten ausgestrahlt wird, beeinflusst den Schlaf nachträglich negativ. Gleichzeitig wirkt sich das Lesen eines Buches positiv auf die Entspannung des Körpers aus – das maßen Psychologen und Schlafforscher der Universität Salzburg anhand der Erweiterung der Blutgefäße, Augenbewegungen und anderen Parametern in einer aktuellen Studie. Scheint also klar zu sein, was ihr euren Patienten ratet, wenn die Schlafhygiene mal wieder mangelhaft ist? Nicht ganz.
Eine breit angelegte Recherche von Medizin Transparent kam zu einer anderen Einschätzung. Darin kommen die Autoren zu dem nahezu vernichtenden Urteil, dass es keinen Unterschied mache, ob der Blaulicht-Anteil in den Geräten herausgefiltert wird oder nicht. Ihr Ergebnis stützt sich dabei auf die Auswertung von sechs relevanten, aktuellen Studien in zwei Publikationsdatenbanken (Pubmed und Cochrane Library) zu der Thematik.
Merklich negative Auswirkungen auf den Schlaf haben sich daraus nicht ergeben. Mit aktiviertem Blaufilter-Nachtmodus oder Blaufilter-Brille brauchten die Teilnehmer der Studien ähnlich lange, um einzuschlafen wie ohne Blaufilter. Auch bei Dauer, Tiefe und Qualität des Schlafs gab es keine wesentlichen Unterschiede. Unerwünschte Nebenwirkungen der Blaufilter wurden allerdings auch keine berichtet.
Und dann wäre da noch die Sache mit dem Melatonin-Spiegel. Tages- bzw. Sonnenlicht bietet das Paradebeispiel, dass die Bildung von Melatonin durch blaues Licht gehemmt wird – der gleiche Einfluss von blauem und weißem LED-Licht wurde in Laborstudien belegt. Gleichzeitig haben nur zwei der Studien auch den Melatonin-Spiegel gemessen. Dieser war zwar auch tatsächlich geringer, wenn die Teilnehmer beim abendlichen Benutzen der Bildschirmgeräte eine Blaufilter-Brille trugen. Gleichzeitig gibt es aber auch Studien, in denen sich die Bildschirm-Beleuchtung nicht auf den Melatonin-Spiegel ausgewirkt hat. Gesichert ist die Auswirkung von blauem Bildschirm-Licht auf die Melatonin-Produktion also nicht. Es steht somit die Frage im Raum, ob die Menge an blauem Licht bei Tablets, Smartphones und Co. überhaupt ausreicht, um die körpereigene Melatonin-Produktion ausreichend stark zu stören.
Neben der Erkenntnis der Nicht-Erkenntnis prangern die Autoren insbesondere an, dass die Studien einige Mängel aufweisen und dadurch wenig aussagekräftig seien. Bei allen Studien liege beispielsweise eine fehlende Verblindung der Teilnehmer vor. So können Vorab-Erwartungen die Ergebnisse verfälschen. Auch sind die Teilnehmerzahlen insgesamt unrepräsentativ klein. Vier der Studien haben dabei nur bis zu 20 Teilnehmer. In der größten Studie (272 Teilnehmer) fehlen die Ergebnisse von 40 Prozent der Teilnehmer, weil diese vorher abbrachen. Auch bilden die Gruppen keine Vergleichbarkeiten – es besteht zum Beispiel kein Aufschluss über das Nutzungsverhalten vor Studienbeginn. Ebenso verzerrt das Vorgehen in der Messdaten-Aufzeichnung das Gesamtbild – während die Messung über ein EEG noch verlässliche Daten produziert, ist die Aktigraphie (Bewegungssensor-Armband) bereits ungenauer. Das Ausfüllen eines Fragebogens am nächsten Morgen ist die wohl am wenigsten verlässliche Quelle.
Vertraut man nun doch auf die Studien im Einzelnen, wird man schnell desillusioniert. Nur eine der sechs Studien hat tatsächlich einen rechnerischen Vorteil für die Blaufilter-Intervention ergeben. Der Effekt war aber so gering, dass er wahrscheinlich im Alltag keine merkliche Rolle spielt – mit Blaufilter schliefen die Teilnehmer im Schnitt nur 7 Minuten früher ein als die ohne Blaufilter. In den anderen 5 Studien zeigte sich auch rechnerisch keinerlei Effekt.
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In erster Linie sind das Änderungen der täglichen Routine wie das Vermeiden von schweren Mahlzeiten, Alkohol oder Kaffee am Abend. Zur Schlafhygiene zählt auch, das Bett nur zum Schlafen zu benutzen – nicht aber beispielsweise zum Lesen, Essen oder Fernsehen. Auch sollte man erst dann ins Bett gehen, wenn man wirklich müde ist. Rituale, Entspannungstechniken und Bewegung sind ebenfalls einen Versuch wert. Führt dies nicht zum Erfolg, stehen eine kognitive Verhaltenstherapie und verschreibungspflichtige Schlafmittel (etwa Benzodiazepine) als wirksame Optionen zur Verfügung.
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