Bei der Hochzeit oder vor einem wichtigen Gespräch: Lippenherpes kommt, wenn man ihn am wenigsten gebrauchen kann. In solchen Fällen könnt ihr Patienten zu Lysin raten – stimmt’s?
Lippenherpes ist eine fiese Sache, keine Frage. Was empfehlt ihr euren Patienten gegen die tückischen Bläschen, die oftmals unverhofft auftreten und das häufig genau dann, wenn man es am wenigsten gebrauchen kann? Ein weit verbreiteter Tipp gegen Lippenherpes ist die Einnahme von Lysin. Viele Apotheken und Online-Shops werben mit dem Nahrungsergänzungsmittel in dieser Indikation. Aber basiert diese Empfehlung wirklich auf einer wissenschaftlichen Grundlage?
Lysin ist eine essenzielle Aminosäure, die über die Nahrung aufgenommen werden muss, da der menschliche Organismus nicht in der Lage ist, sie selbst zu synthetisieren. Im Körper ist sie wichtiger Bestandteil vieler Proteine, außerdem kommt sie mit einer Konzentration von etwas mehr als 25 mg/l im Blutplasma vor. Der Tagesbedarf gesunder Erwachsener beträgt etwa 14 mg/kg Körpergewicht. Wie andere Aminosäuren, kommt Lysin besonders in proteinreichen Nahrungsmitteln wie Fleisch, Fisch, Eiern und Milchprodukten vor. Gemüse enthalten mit Ausnahme von Hülsenfrüchten (z. B. Bohnen, Erbsen, Linsen) eher wenig Lysin, weshalb man besonders bei veganer Ernährung hier ein Auge auf eine eventuelle Unterversorgung haben sollte.
Es gibt aber noch eine weitere Funktion, die Lysin angeblich erfüllen soll. Die tägliche Einnahme soll auch ein wiederholtes Auftreten von Lippenherpes vermindern und bei beginnendem Juckreiz und Bläschenbildung die Symptome unterdrücken und verkürzen. Tatsächlich sind Studienergebnisse hierzu aber uneindeutig und teils widersprüchlich, wie eine Recherche von Medizin Transparent zeigt. Das Projekt von Cochrane Österreich an der Donau-Universität Krems möchte mit Gesundheitsmythen aufräumen und überprüft mit seiner Recherche wissenschaftliche Belege für Gesundheitsbehauptungen aus dem Internet, den Medien und der Werbung. Das Fazit zu Lysin und seiner Wirkung gegen Herpes: Die vorhandenen wissenschaftlichen Untersuchungen haben nur eine geringe Aussagekraft.
In einem Großteil der Studien nahmen die Teilnehmer die Aminosäure eine Zeit lang in Kapsel-Form ein, mit der Intention, Herpesbläschen vorzubeugen. In einigen wenigen Untersuchungen begannen die Probanden aber erst mit der Einnahme, sobald erste Symptome auftraten. Teilweise konnte dann eine Verbesserung der Symptome unter Lysin beobachtet werden, in anderen Fällen blieb ein Effekt jedoch aus.
Was auffällt: Seit den Achtzigerjahren wurde in diesem Gebiet nicht mehr geforscht – und trotzdem wird aktuell auf vielen Internetseiten mit Lysin als Mittel gegen Herpes geworben. Dass Lysin überhaupt einen Effekt auf Lippen- oder Genitalherpes haben könnte, vermuteten Wissenschaftler erstmals in den Sechzigerjahren, nachdem der Mediziner Robert W. Tankersley eine interessante Beobachtung im Reagenzglas machte. Er infizierte menschliche Zellen mit dem Herpesvirus H. simplex und prüfte, welche Aminosäuren sich auf die Infektion auswirkten. Und tatsächlich: Während Arginin die Infektion beschleunigte, schien Lysin die Virusreplikation eher zu hemmen.
Neben einer direkten Wirkung könnte ein hemmender Effekt im Körper aber auch so erklärt werden: Lysin und Arginin sind beide basische Aminosäuren, die im Darm über dasselbe Transportprotein aufgenommen werden. Lysin ist in der Lage, die Absorption von Arginin zu stören – nehmen Menschen also viel Lysin zu sich, sinkt automatisch die Aufnahme von Arginin über den Darm. So könnte dem Herpes-Virus eine für seine Replikation wichtige Substanz entzogen werden, lautet zumindest die Hypothese.
Rund 60 bis 80 Prozent der Menschen in Deutschland tragen Herpesviren in sich, aber nur bei etwa 20 bis 40 Prozent kommt es tatsächlich zum Ausbruch von Lippenherpes. Beim Genitalherpes sind nur ca. 1 bis 3 von 1.000 Menschen betroffen. Man unterscheidet zwei eng verwandte Arten des Herpes-simplex-Virus: Typ 1 (HSV-1) und Typ 2 (HSV-2). Sie führen beide u. a. zu genitalen und orolabialen Symptomen und sind klinisch nicht zu unterscheiden. Jedoch kommt es bei genitalen HSV-2-Infektionen bzw. bei orolabialen HSV-1-Infektionen zu einer jeweils im Vergleich zum anderen Virussubtyp deutlich höheren Rezidivrate. Die Primärinfektion erfolgt außerdem bei HSV-1 vor allem über den Mundbereich, bei HSV-2 eher über die Genitalorgane. Deshalb wird HSV-1 häufig auch als oraler Typ, HSV-2 als genitaler Typ bezeichnet. Diese Zuordnung kann aber irreführend sein, zumal der Anteil an genitalen Infektionen durch HSV-1 im Rahmen orogenitaler Kontakte deutlich zugenommen hat.
Nach der Erstinfektion persistieren die Viren v. a. im Ganglion trigeminale, wobei auch das Ganglion cervicale superius und das Ganglion cervicale inferius häufig betroffen sind. Bei anogenitalen Infektionen sind die sakralen Spinalganglien, autonome Ganglien sowie Nerven des Beckens infiziert. Wer sich einmal mit Herpes-Viren angesteckt hat, trägt sie lebenslang im Körper. Das schlummernde Virusgenom kann reaktiviert werden, es kommt zur Replikation und Freisetzung von HSV in die Haut. Die Viren breiten sich dafür mittels axonalem Transport aus. Vermutete Triggerfaktoren einer Reaktivierung sind UV-Strahlung, systemische oder lokale Immunsuppression, Fieber, Stress und Traumata der Haut und der Ganglien.
Zum Glück für Betroffene heilen die Herpes-Bläschen nach ein bis zwei Wochen von alleine ab. Gefährlich kann eine Infektion vor allem bei Personen mit geschwächtem Immunsystem werden. Komplett loswerden kann man die Viren nicht mehr. Zur Vorbeugung und frühen Behandlung können Virostatika wie Aciclovir, Valaciclovir oder andere verwandte Substanzen eingesetzt werden. Ob das für Menschen mit einem gesunden Immunsystem aber klinisch einen Unterschied macht, ist noch nicht ausreichend erforscht.
In einer kleinen Studie mit 22 Probanden wurde untersucht, ob Aciclovir vor Lippenherpes schützten kann, wenn es langfristig eingenommen wird. In die Studie eingeschlossen wurden Probanden, die mehr als fünfmal im Jahr von Lippenherpes betroffen waren. Eine Gruppe nahm täglich 2 x 400 mg Aciclovir für vier Monate ein. Eine zweite Gruppe erhielt ein Placebo-Medikament. Durchschnittlich bekam in diesem Zeitraum jeder Proband der Placebo-Gruppe zweimal Lippenherpes, während dieser in der Aciclovir-Gruppe nur durchschnittlich ein Mal pro Person auftrat. Für eine verlässliche Aussagekraft der Ergebnisse müssen allerdings weitere Studien mit mehr Teilnehmern erfolgen.
Auch mögliche Risiken einer langfristigen Einnahme des Virostatikums sind noch nicht ausreichend untersucht. Aciclovir ist normalerweise gut verträglich, könnte aber bei einer langfristigen Einnahme mit Risiken einhergehen. Bei Personen mit eingeschränkter Nierenfunktion werden deshalb niedrigere Dosierungen und regelmäßige Kontrollen empfohlen.
Was bleibt also als Fazit für die Lysin-Fans? Eine wissenschaftlich begründete Empfehlung kann für die Behandlung oder Prävention von Herpes nicht ausgesprochen werden. Generell gibt es nicht viele medikamentöse Optionen. Einige Studien zeigen Erfolge beim Einsatz von Virostatika wie Aciclovir, das gilt aber bisher hauptsächlich für Patienten mit Immunsuppression.
Wollen Patienten vorbeugen, so kann zu einer gewissenhaften Lippenpflege geraten werden, um Risse und kleine Verletzungen der Haut zu vermeiden. Bei starker Sonneneinstrahlung sollte außerdem darauf geachtet werden, hier besonders die Lippen durch Sonnencremes zu schützen.
Bildquelle: Birmingham Museums Trust, unsplash