Jetzt ist es so weit – ich habe die Praxis von meinem Chef übernommen. Was sich für mich damit alles verändert, hat mich dann doch überrascht.
Glücklicherweise habe ich in den letzten Wochen und Monaten viel geschafft und ich denke, die allermeisten organisatorischen Dinge sind vorbereitet – wie zum Beispiel die EDV, Stempel, Rezepte oder das Praxisschild. Aber auch Dinge wie einen neuen Defibrillator und die Vorbereitung für einige zusätzliche Sicherheitsmaßnahmen in Bezug auf Cyber-Angriffe, habe ich auf dem Schirm. Die Patienten sind informiert und die Rückkopplung ist wirklich sehr positiv – es sind viele, glaube ich, vor allem alle erleichtert, dass die Praxis bleibt.
Was ich aber momentan echt interessant finde, ist die politische Dimension des Chefseins. Denn das hatte ich unterschätzt. Ja, wo mehr als zwei Menschen zusammen sind, gibt es automatisch Politik. Einige Reaktionen haben mich dann aber doch überrascht.
Beispiele auf zwischenmenschlicher Ebene gibt es dabei jede Menge, die meine neue Position bzw. das Verständnis meiner Mitmenschen für diesen neuen Titel betreffen.
In der Praxis: Ich finde es aus ökologischen Gründen total sinnvoll, wenn man mit mehreren in einem Auto fährt. Da mein Mann und ich bisher nur ein Auto hatten (und mein Praxis-Auto leider noch nicht da ist), bin ich deswegen in den letzten Wochen auch häufiger mit Kolleginnen gefahren. Für mich damit völlig klar – ich zahle Spritgeld. Eine Kollegin wollte das aber nicht (mehr), mit der Begründung, dass ich ja bald die Chefin sei. Wie bitte? Was hat denn das eine mit dem anderen zu tun? Ich fahre mit, ich verbrauche damit ihren Sprit, also zahle ich den. Das ist zumindest meine Meinung dazu.
Womit wir aber direkt beim nächsten Thema wären: Ich möchte gern ein ehrliches Feedback von meinen Mitarbeitern. Aber ich fürchte, das wird als Chef eher schwieriger zu bekommen sein – weil der Vorschlag vom Chef kommt. Klar habe ich inzwischen auch einige Dinge, die ich definitiv anders machen möchte, als mein Chef sie bisher gemacht hat. Wie oben schon erwähnt, sehe ich die Gefahr eines Cyber-Angriffs auf unsere Arztpraxis als deutlich größer an, als er es tat. Deswegen möchte ich – auch, wenn das sicherlich manchmal etwas umständlicher ist – unsere Praxisverwaltungssoftware so weit es geht vom Internet abklemmen. Alles, was potenziell gefährlich ist (Surfen, am liebsten auch E-Mail-Annahme, etc.), soll über einen separaten Laptop laufen, der nicht an das Praxisnetzwerk angeschlossen ist (und wer mich jetzt für paranoid hält, liest hier nach).
Ich würde das aber natürlich gerne mit meinen Angestellten diskutieren. Vor allem, damit sie verstehen, WARUM ich das für gefährlich halte. Aber auch, falls sie noch andere Ideen hätten, wie man da einen besseren Schutz gewährleisten könnte. Das Problem: Ich habe bei den wenigsten das Gefühl, dass sie sich ernsthaft damit beschäftigen, sondern das alles nach dem Motto verläuft: „Sie machen die Ansage, wir folgen.“ Das finde ich unheimlich schade, weil ich glaube, dass so ein Feedback für mich gut wäre. Und auch die Praxis profitiert, wenn alle mitdenken – und nicht nur blind dem Chef folgen.
Mit Kollegen aus anderen Praxen/Krankenhäusern: Ich arbeite seit 11 Jahren hier, habe mit vielen Kollegen intensiv für die Covid-Impfungen zusammengearbeitet und vieles mehr. Aber erst mein Chef-Sein regt viele dazu an, mir das „Du“ anzubieten. Wahrscheinlich auch normal, aber für mich schon manchmal irritierend. Es ist halt doch offensichtlich vor allem noch viel eine Status-Frage, weniger eine, die mit Vertrautheit oder intensiver Zusammenarbeit zu tun hat. Wobei das auch die Generation sein kann.
Gestern, beim Abschied meins Chefs, entspann sich ein kurzes Gespräch über Duzen zwischen MFAs und Chefs. Und zumindest hier vor Ort scheinen alle die Kombination „Sie/Vornamen“ zu benutzen. Die einzige, die das anders sah, war eine Kollegin, die auch in meinem Alter ist und noch überlegt, ob sie in eine Praxis einsteigt.
Ein Chefarzt aus einem Krankenhaus verabschiedete sich von mir mit den Worten, dass ich jetzt hoffentlich nicht alles in mein altes Krankenhaus schicke (das war nämlich nicht das, in dem er Chef ist). Wobei ich auch da eine andere Einstellung zu haben scheine, als andere. Ich möchte meine Patienten dahin schicken, wo sie gut versorgt werden – aber das mache ich an Abteilungen und nicht an Häusern fest. Das war auch für mich der Grund, weswegen ich mir ein MVZ (die ja oft an Krankenhäuser gebunden sind) nicht wirklich hätte vorstellen können.
Ich möchte in der Zuweisung meiner Patienten unabhängig bleiben. Dann geht alles Gynäkologische in Haus A, Gastroenterologisches und Kardiologisches in Haus B und Unfallchirurgisches vielleicht eher in Haus C. Dahin, wo die Patienten halt am besten für ihr Krankheitsbild versorgt sind. Aber dadurch, dass ich eine recht große Praxis übernehme, bin ich natürlich dann auch ein großer Zuweisungs-Faktor. Mann, Mann, Mann – so viel Politik, dabei wollte ich doch nur die Praxis erhalten.
Was mich aber am meisten verblüfft hat, waren die Reaktionen einiger Patienten. Klar, viele kommentieren den Wechsel, aber meistens sind das kurze Rückkopplungen wie: „Schön, dass die Praxis erhalten bleibt.“ Andere sind da schon deutlicher. Ich wurde mehrfach im Vorfeld angesprochen, ob mein männlicher Kollege denn gehe oder sich übergangen fühle, weil ich ja jetzt die Praxis übernehme. Da musste ich am Anfang echt schlucken, aber inzwischen kann ich das auch halbwegs mit Humor nehmen. Wahrscheinlich ist das auch Teil des Landärztin-Daseins, dass hier, auf dem Land eben, die Uhren etwas langsamer ticken. Auch bei solchen Einstellungen.
Aber als ein Patient mir sagte, er komme ab jetzt nur noch zu mir, weil ich ja jetzt die Chefin sei und er immer nur zum Chef gehe, war ich doch kurz perplex. Eine andere Patientin, die ich mit ihrem Ehemann nun seit über 5 Jahren intensiv betreue, fragte mich, ob sie denn überhaupt noch zu mir kommen dürfe. Auch da war die Begründung: „Sie sind doch jetzt Chef.“ Natürlich können meine Patienten weiter zu mir kommen! Ich bin jetzt medizinisch weder kompetenter noch inkompetenter als vorher – ich bin nur zusätzlich Chef. Was aktuell hauptsächlich bedeutet, dass ich neben dem rein Medizinischen noch tausendfünfhundert andere Dinge zu organisieren habe, die Praxisablauf, Abrechnung, Personalplanung, Hardware und alles andere betreffen.
Was das für mich verursacht, ist ein gewisses Gefühl von Einsamkeit. Was man sagt, ist politisch, was man tut, ist politisch und ich bin unsicherer als vorher, was die Authentizität derjenigen angeht, mit denen ich zu tun habe. Denn ich bin jetzt eben ein Chef – und ein großer Zuweiser sowie die Führung eines mittelständischen Unternehmens. Und leider kommen mit dem netten Gespräch auch oft Ansprüche, unterschiedlich gut versteckte Forderungen. Politik eben. Aber auch damit werde ich umgehen lernen. Am Ende hoffe ich, dass es so wird, wie eine andere Kollegin mir vor kurzem sagte: „Hey – Du bist zwar selbständig, aber Du musst nicht allein sein mit allem.“
Bildquelle: Austrian National Library, unsplash