Angestellte, die immer nur das Beste für sich selbst rausholen wollen – das kenne ich als Chefin einer Praxis gut. Natürlich will ich ihnen das auch bieten. Aber: Bei den heutigen Ansprüchen ist das wirklich nicht leicht.
Es gibt momentan ein Thema, was mir immer wieder in Gesprächen oder in Artikeln über den Weg läuft: Arbeitnehmer der jüngeren Generationen mit sehr großen Ansprüchen an Work-Life-Balance und Arbeitsbedingungen. Kurze Anmerkung vorweg: Ja, ich glaube, dass diese Einstellung heutzutage häufiger vorkommt – einfach, weil man es sich jetzt leisten kann. Aber das heißt bei Weitem nicht, dass alle Jüngeren die unten beschriebene Einstellung haben oder alle Älteren nur ihren Job im Kopf hatten und nicht auch Work-Life-Balance wollten, auch wenn sie es vielleicht anders genannt haben. Und ein gewisser Ausgleich ist natürlich gut und sinnvoll für alle Beteiligten.
Ich habe dazu ja vor Jahren schon einmal etwas geschrieben. Jetzt bin ich als baldiger Arbeitgeber noch stärker selbst betroffen. Was vielleicht erklärt, warum mich das Thema noch stärker beschäftigt.
Ich weiß (noch) nicht genau, wie ich damit als Arbeitgeber umgehen soll. Ich erinnere mich gut daran, wie ich mich als PJler über Sprüche wie „Blut abnehmen, Haken und Fresse halten“ geärgert habe und mir zumindest eine Aufwandsentschädigung gewünscht hätte. Deswegen begrüße ich es auch sehr, dass es so etwas jetzt gibt. Natürlich versuche ich auch, dass unsere PJler wirklich etwas lernen und gut als Jung-Ärzte ausgebildet werden. Das Feedback für unsere Praxis war auch immer positiv. Aber in manch anderer Hinsicht frage ich mich, wie das in Zukunft funktionieren soll.
In unserem kleinen Krankenhaus hier haben jetzt kurz hintereinander drei Assistenten direkt in der Probezeit aufgehört mit der Begründung, „es sei einfach zu anstrengend“. Momentan ist sicherlich auch eine Ausnahmezeit mit der ganzen Be- und Überlastung durch Pandemie und Personalknappheit. Und natürlich ist es in einem kleinen Haus noch schwieriger, weil das Jahr 365 Tage hat und sich damit die Dienste bei einer kleineren Abteilung auf weniger Schultern verteilen. Aber andererseits weiß ich, dass die Abteilung ein gutes Teaching hat sowie Ober- und Chefärzte, die sich kümmern und wohl auch sehr nettes Feedback geben. Also eigentlich wirklich alles tun, was sie tun können. Und in dem Fall waren sogar, bis die drei gekündigt haben, alle Stellen besetzt und somit eben kein Personalmangel. Was soll denn da NOCH gemacht werden?
Auch ich hatte jetzt Diskussionen mit meinen angestellten Ärzten über das, was realistisch möglich ist. Damit entsprechend Geld reinkommt und ggf. die Facharztausbildung schnell vorangeht, sollten es halt eher mehr Stunden sein und nicht Teilzeit, aus familiären Gründen. Auch da gilt: Ja, das kenne ich noch sehr gut! Deswegen habe ich selber über 10 Jahre für meinen Facharzt gebraucht, weil ich mich eben entscheiden musste zwischen „viele Stunden = schneller Facharzt und mehr Geld“ oder „weniger Stunden wegen Kinderbetreuung = langsamer Facharzt und weniger Geld“.
Mein Chef hat mir damals gesagt: „Nimm dir die Zeit. Deine Kinder sind nur einmal klein. Der Facharzt rennt nicht weg und nach dem Facharzt musst du dich niederlassen und das ist dann noch schwieriger mit verpflichtenden KV-Diensten.“ Ich bin seinem Rat gefolgt, fand das für mich auch rückblickend definitiv richtig so. Deswegen habe ich das auch meinen Angestellten angeboten mit der gleichen, ausführlichen Begründung. Das woll(t)en die aber nicht. Sondern es soll beides gehen: viele Stunden, aber eben nicht unbedingt zu den bisherigen Praxis-Öffnungszeiten. Ich muss neben den Ärzten ja auch noch die MFAs beachten, die dann ebenfalls da sein und sich vielleicht um ihre Kinderbetreuung kümmern müssen. Am Ende konnte ich ein System finden, das für alle halbwegs passt. Aber das hat echt viel Kraft und Energie gekostet.
Jetzt kommt der Punkt, der mich momentan am meisten umtreibt: Wie soll das funktionieren, wenn jetzt so viele aus der jüngeren Ärztegeneration, die so sehr auf Rechte und faktisch nicht mehr auf Pflichten (oder die Ansprüche der Realität) fokussiert sind, eigentlich mal Praxen und Leitungsfunktionen übernehmen müssten? Aktuell sind noch genug ältere Kollegen und MVZ da, bei denen man sich anstellen lassen kann. Aber auch die müssen irgendwann von irgendwem anderen geleitet werden.
Jetzt versuche ich, mir vorzustellen, wie ein Chef – dessen Maxime die eigene Work-Life-Balance ist und der Chefsein vor allem mit NOCH mehr Entscheidungsfreiheit und Geld assoziiert, als er jetzt eh schon aushandeln konnte – vermitteln soll. Zwischen Arbeitnehmern mit demselben Anspruch – und zwar am besten ganz viele Teilzeitler, aber niemand will den Donnerstagnachmittag, „wegen der Kinder“ – Patienten, die sich als Kunden sehen, und einer KV, die die Dokumentations- und Qualitätssicherungsansprüche immer höher schraubt.
Plus, die finanzielle Frage: Klar soll das Gehalt angemessen sein, aber gleichzeitig wurde jetzt den Hausärzten für das nächste Jahr erst eine Nullrunde angeboten, dann gabs magere 2 %. Ich bezweifle, dass meine Angestellten viel Verständnis für mich zeigen werden. Sondern es wird darauf verwiesen, dass wir die Gehälter entsprechend der Tarifverträge der Krankenhauskollegen steigern – und die MFA-Gehälter sind ja auch gestiegen in den letzten Jahren. Nochmal: Ich gönne jedem sein Gehalt und es soll auch fair sein. Aber als diejenige, die jetzt nochmal extrem hohe Schulden aufnehmen muss, bekommt man da doch etwas Sorgen.
Mein Chef und sein ehemaliger Partner haben sich alle Mühe gegeben, dass für den jeweiligen Ruhestand ein Nachfolger da ist. Es ist aber keiner von den beiden geplanten Nachfolger geworden. Mein Chef hat vor gut 10 Jahren seinen ehemaligen Kollegen ausbezahlt, weil die für die Nachfolge vorgesehene Kollegin abgelehnt hat. Ich übernehme jetzt seine Praxis, weil mein männlicher Kollege auch seine Ansprüche und den Job nicht unter einen Hut bekommt. Meine Motivation war nicht „Hurra, endlich Chef“, sondern „Die Patienten brauchen uns, die Praxis braucht einen Chef. Es ist kein anderer da, also mache ich das.“
Ja, es war mindestens so viel Arbeit und Mühe, wie ich mir vorgestellt hatte – wenn nicht noch mehr. Wenn ich dann jemand fragt: „Herzlichen Glückwunsch zur Praxis! Chefsein ist toll, oder?“, dann weiß ich nicht, was ich darauf antworten soll. Das hört man übrigens nur von Leuten, die selbst angestellt sind. Die Leute, die selbst Chef sind, lächeln meist verständnisvoll und sprechen einem Mut zu. Sie erzählen auch von den anspruchsvollen Angestellten, womit sich der Kreis schließt. Denn ich stehe jetzt auch als Neu-Chefin da. Mit Angestellten, die definitiv gewohnt sind, für sich selbst sehr gute Konditionen auszuhandeln und auch zu bekommen. Ich möchte ihnen ja auch faire Konditionen bieten – aber das muss dann auch für alle Beteiligten gelten. Also für meine Angestellten und für mich. So habe ich es jetzt nach langem Überlegen auch für die Arbeitszeiten geregelt.
Deswegen mein Plädoyer als jemand, der beide Seiten kennt: Ich fände es am besten, wenn sich alle – Arbeitgeber und Arbeitnehmer – einigermaßen gleichmäßig um ihre Rechte und Pflichten kümmern würden. Denn: „Unsere Pflichten, das sind die Rechte anderer auf uns.“ – Friedrich Nietzsche.
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