Wenn bei Kindern eine Angststörung diagnostiziert wird, können die Ursachen vielfältig sein. Oft spielen die Eltern eine entscheidende Rolle, wenn das Kind sozial-ängstliches Verhalten zeigt.
Kollegen, die mit Kindern und Jugendlichen psychotherapeutisch-ärztlich arbeiten, kennen wohl diese Situation: Es wird dringend um einen zeitnahen Termin zur Erstvorstellung gebeten. Die psychische Verfassung des Kindes oder Jugendlichen sei sehr kritisch. Dies schon seit mehreren Monaten.
Die Symptomatik: Schulverweigerung oder häufiges Fehlen in der Schule, sehr viele ärztliche Atteste, eingeschränktes und nicht-altersentsprechendes Funktionsniveau. Die Lehrer machen sich Sorgen um den Jugendlichen. Oft ist die Beschreibung der Eltern begleitet von unspezifischen somatoformen Beschwerden, z.B. Bauchschmerzen, Kopfschmerzen. Aufgrund der beschriebenen Dringlichkeit und des deutlichen Leidensdrucks vereinbaren wir einen zeitnahen Termin.
„Wenn das so dringend ist: Wie wäre es gleich diese Woche, Donnerstag?“ schlage ich vor. „Ne, da hat er (betroffene Jugendliche) Klavierunterricht. Also, das wollen wir ihm nicht wegnehmen.“ „Aha, ok. Nächsten Montag?“ „Vormittags haben Sie gesagt? Ne, das ist während der Schulzeit.“ „Ich dachte, Ihr Sohn geht nicht in die Schule?“ „Naja, manchmal schon. Hätten Sie nicht einen Termin Freitag um 17 Uhr? Es ist wirklich schlimm, egal wo ich anrufe, überall nur Warteliste. Wir machen ja vieles möglich, aber etwas flexibel muss man schon sein,“ sagt die Mutter am Ende der Leitung. Nach einigem Hin und Her wird ein Termin vereinbart.
Eine Mutter (wie in über 90% der Fälle) begleitet ihren Sohn in die psychotherapeutische Praxis. Der 16-jährige Sohn zeigt sich wortkarg. In der psychopathologischen Exploration zeigt sich seit mehreren Monaten soziales Rückzugsverhalten. Null-Bock-Stimmung, affektiv ist der Jugendliche modulationsfähig. Soziale Unternehmungen finden virtuell statt. Keine Suizidalität. Die sozialen Fertigkeiten sind deutlich eingeschränkt. Online würde „alles klappen“, nur eine Face-to-Face Interaktion sei besonders überfordernd für ihn. Alleine einkaufen, mit dem Bus/Zug fahren, fremde Menschen ansprechen – das alles sei sehr stark eingeschränkt. Referate in der Schule seien für ihn „die Hölle“.
Eine leichte Antriebsminderung ist zwar zu verzeichnen, allerdings gilt dies nicht im virtuellen Raum. Eine Freundin habe er. „Da läuft alles gut!“ Es ergeben sich Anhaltspunkte für eine soziale Angststörung. Die weitere testpsychologische Untersuchung und die Diagnostik bestätigen dies. Die Mutter beschreibt sich als schon immer etwas „vorsichtig, sorgenvoll“. Und der Vater? „Ja, den gibt’s natürlich auch. Er ist immer arbeiten. Redet wenig. Kann auch wenig mit solchen Sachen anfangen.“ Mit „solchen Sachen“ sind Gefühle und emotionale Zusammenhänge gemeint.
Der Jugendliche hat zwar einen spürbaren Leidensdruck, eine Veränderungsmotivation ist noch nicht vorhanden. Nach dem Verstreichen der psychotherapeutischen Sprechstunde wird eine Richtlinienpsychotherapie zur Behandlung der sozialen Angststörung empfohlen. „Unbedingt!“ sagt die Mutter. Der Jugendliche hält es auch für notwendig. „Naja, ich denke, es muss sein.“ Es braucht sehr viel Zeit und Geduld, um einen „passenden“ nächsten Termin zu finden. Das ist für mich nicht nachvollziehbar, denn der Jugendliche geht ja nicht in die Schule. Bei der Besprechung der nächsten Therapieschritte zeigt sich die Mutter sehr ablehnend.
„Alleine mit dem Bus fahren? Das schafft er nicht!“ (Anmerkung: es handelt sich um max. 10 Minuten Busfahrt).
„Dann müssen wir das üben,“ sage ich.
„Was soll das bringen? Wer von den Jugendlichen fährt denn heute mit dem Bus?“, antwortet die Mutter.
„Hm, ich finde das auch nicht so eine gute Idee“ erwidert der Jugendliche.
Ok, wir müssen ganz langsam anfangen! Das akzeptieren dann auch alle Beteiligte. Aber irgendwann kommt es zu dem Punkt, wo gehandelt werden muss. Eine Exposition in vivo muss her! Beim ersten Termin entschuldigt die Mutter ihren Sohn 10 Minuten vor der vereinbarten Sitzung.
„Hm, es geht ihm nicht gut! Also, das ist ganz schön anstrengend bei Ihnen. Ich kann das schon verstehen.“ So die Mutter. Bei der zweiten geplanten Expositionssitzung erscheint der Jugendliche nicht. Ich rufe mehrfach an. Leider ohne Erfolg. Zwei Wochen später kommt die Reaktion. Zum ersten Mal während des therapeutischen Verlaufs lerne ich den Vater kennen. Ich höre seine Stimme auf dem Anrufbeantworter: „Ja Guten Tag. Herr XY, der Vater von Z. Unser Sohn möchte nicht mehr zu Ihnen kommen. Ist ihm zu stressig und wir haben den Eindruck, dass die Chemie nicht stimmt. Streichen Sie bitte alle Termine. Vielen Dank!“ Meine Rückrufe werden nicht beantwortet. Ein „Abschlusstermin“, wie vertraglich festgelegt, wird passiv abgelehnt.
Dass ein sozial-ängstlicher Jugendlicher bei geplanter Konfrontation mit seinem „Angstobjekt“ Widerstand zeigt, ist zu erwarten. Bei solchen Konstellationen (Anmerkung: dies ist eine anekdotische Darstellung, welche sich jedoch in Einzelheiten mehrfach wiederholt hat!) kann das psychosoziale Umfeld aufrechterhaltend sein – und ist es auch im Großteil der Fälle. Dazu gehören unter anderem die Eltern.
Dabei mache ich gerne die Unterscheidung zwischen psychisch kranken Eltern (z.B. Eltern mit einer Angststörung) und solchen, die psychisch gesund sind, jedoch ungünstiges und genesungsverhinderndes Erziehungsverhalten zeigen. Kinder von Eltern mit Angststörungen haben ein höheres Risiko, selbst Angststörungen zu entwickeln. Es existiert mittlerweile eine breite Evidenz für die genetische und epigenetische Transmission psychischer Erkrankungen, z. B. Angststörungen. Eine Reflektion der psychischen Störung der Eltern ist bei der Behandlung der Kinder erforderlich. Eine gelungene Psychotherapie der Eltern ist manchmal sogar eine Ressource.
Problematisch sind unbehandelte oder sogar undiagnostizierte psychische Erkrankung der Eltern, die nicht nur das eigene Leben, sondern auch das Leben der Kinder beeinträchtigt. Der Übergang zu einer Kindeswohlgefährdung kann sehr wahrscheinlich sein. Dies hängt jedoch von vielen Faktoren ab, die im Einzelfall immer mitbedacht und diskutiert werden sollten.
Natürlich ist eine psychische Erkrankung der Eltern nur ein Aspekt – wenn auch ein elementarer – bei der Aufrechterhaltung von Angststörungen. Bei angstbedingten und schulbezogenen Problemkonstellationen (z.B. Schulabsentismus) ist die Mitwirkung unterschiedlicher Systeme (Eltern, Schule, Schulamt, Jugendamt) erforderlich. Ohne koordiniertes Vorgehen und „Case Management“ kann es allerdings leicht dazu kommen, dass Vereinbarungen und die Umsetzung konkreter Schritte nicht eingehalten werden.
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