Merck ist in der Bredouille: Nach Anpassung der Levothyroxin-Rezeptur eines Medikaments klagen Patienten über Nebenwirkungen. Der Fall ging vor Gericht, der Hersteller musste zahlen. Aber ausgestanden ist die Sache immer noch nicht.
Schilddrüsen-Medikamente stehen nicht umsonst auf der Substitutionsausschlussliste, denn sie haben nur eine geringe therapeutische Breite. Bereits leichte Änderungen der Dosis oder Konzentration des Wirkstoffes kann hier zu klinisch relevanten Wirkungsveränderungen führen. Das war auch der Grund, warum der französische Ableger des Pharmaherstellers Merck im Jahr 2017 seine Levothyroxin-Rezeptur umstellte, denn die Wirkstofffreigabe sollte über die gesamte Lagerdauer verbessert werden. Was folgte, war eine regelrechte Klagewelle, denn viele Patienten vertrugen die neue Formulierung nicht. Nun wird nicht nur gegen den Hersteller, sondern auch gegen die die französische Arzneimittelbehörde ANSM wegen Täuschung ermittelt.
Die Änderung der Rezeptur war laut ANSM nötig, damit Levothyroxin von Merck – übrigens damals noch das einzige Levothyroxin-Präparat in ganz Frankreich für circa 3 Millionen Betroffene – bei seiner Wirkstofffreisetzung stabilisiert werden konnte. Die Arzneimittelbehörde beklagte bereits im Jahr 2012 eine zu starke Varianz. Merck war dem Wunsch nachgekommen und hatte im März Levothyrox® durch Euthyrox® ersetzt. Das neue Präparat enthält als Zusatzstoffe Mannitol und Zitronensäure statt Laktose. Dies soll sollte dazu führen, dass über die gesamte Zeit der Lagerfähigkeit eine möglichst identische Menge des aktiven Hormons in den Tabletten enthalten bleibt. Zudem sollten laktoseintolerante Patienten oder Patienten mit einer hereditären Galaktoseintoleranz zusätzlich von der Umstellung profitieren. Seit dieser Umstellung muss der Levothyroxin-Gehalt über die Gesamtdauer der Haltbarkeit zwischen 95 und 105 Prozent liegen, statt wie zuvor im erlaubten Schwankungsbereich zwischen 90 bis 110 Prozent.
Nach dieser Umstellung mehrten sich – medial begleitet – die Berichte vieler Betroffener über unerwünschte Nebenwirkungen wie Schwindel, Krämpfe, gastrointestinale Beschwerden, teilweise extrem starke Kopfschmerzen, Gewichtszu- oder abnahme, Herzrasen, übermäßiges Schwitzen, Flush und Haarausfall. Hier berichtete Prof. Helmut Schatz im Blog der Deutschen Gesellschaft für Endokrinologie. Es wurden zahlreiche Gerichtsverfahren eingeleitet und eine Petition mit dem Ziel, die alte Formulierung wieder verfügbar zu machen, unterschrieben 300.000 Personen. Merck berief sich auf eine offene randomisierte, Two-Period-, Two-Sequence-, Single-Dose-Bioäquialenzstudie im Cross-over-Design, die vor der Markteinführung des Produktes keine wesentlichen Unterschiede zwischen den beiden Formulierungen finden konnte, bis auf die verbesserte Stabilität der Tabletten.
In einem Zivilverfahren wurde Merck im März 2022 trotzdem dazu verurteilt, mehr als 3.000 Klägern Schadenersatz von je 1.000 Euro zu zahlen. Auf dem Beipackzettel wurden zwar die neuen Inhaltsstoffe genannt, das genüge aber nicht, um die betroffenen Patienten über die geänderte Rezeptur zu informieren, befand das Kassationsgericht. Viele der Patienten wurden nicht ausreichend darüber aufgeklärt und konnten die plötzlich auftretenden gesundheitlichen Einschränkungen nicht zuordnen. So verstrich zu viel Zeit, während der sie leiden mussten, bis das Schilddrüsenpräparat als Ursache feststand.
Merck bestritt die Anschuldigungen vor Gericht, denn sowohl Ärzte und Apotheker als auch der Konzern selbst hätten ausreichend über die Galenikänderung aufgeklärt. Am 27. Februar 2017 wurden die französischen Ärzte und Apotheker vom Hersteller über den Wechsel informiert und darum gebeten, die Umstellung möglichst schnell zu vollziehen. Die Patienten sollten auf das veränderte Packungsdesign und die Blister hingewiesen werden. Eine Überwachung der TSH-Spiegel für Risikopatienten wie Kinder, ältere Personen, Patienten mit kardiovaskulären Erkrankungen oder Schilddrüsenkrebs wurde angeraten.
Die Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft empfindet die Klagewelle vor allem als Überreaktion eines sensiblen Patientenkollektives, getriggert durch die „Medien und durch Dr. Google“ – analog zu einem ähnlichen Fall in Neuseeland. Dort verschwanden die Meldungen zu den Nebenwirkungen des Schilddrüsenmedikamentes Eltroxin®, das ebenfalls seine Zusammensetzung geändert hatte, zeitgleich mit dem Rückgang der Medienberichte darüber.
Die französische Justiz sieht das anders und ermittelt nun, neben Merck, auch gegen die französische Arzneimittelbehörde wegen schwerer Täuschung. Die ANSM bestreitet die Vorwürfe, denn sie habe die Schwierigkeiten, die einige Patienten bei der Umstellung auf die neue Formel von Levothyrox® hatten, nie bestritten. Sie wolle ihren vollen Beitrag zur Wahrheitsfindung leisten, es seien jedoch keine strafrechtlichen Vergehen begangen worden.
Für alle Apothekenmitarbeiter ist der komplette Vorgang ein gutes Beispiel dafür, wie es nicht laufen sollte, was die Kommunikation mit den Patienten angeht. In Zeiten der Lieferengpässe stehen diese Aufklärungsgespräche tagtäglich auf dem Programm der Vor-Ort-Apotheke. Wir sollten uns darüber im Klaren sein, dass eine evidente und klare Beratung auch einem Nocebo-Effekt vorbeugen kann. Gerade bei Medikamenten, die auf der Substitutionsaustauschliste stehen, gehören genaue Aufklärung und engmaschige Kontrollen zwingend dazu, um Unsicherheiten beim Anwender vorzubeugen.
Derzeit sind Lieferprobleme beim Schilddrüsenmedikament Thevier® 50 Mikrogramm bekannt, die noch mindestens bis Ende Februar 2023 andauern werden. Hier gilt es in Anbetracht des Merck-Falles, die Patienten besonders genau aufzuklären. Die überwiegende Mehrzahl der Schilddrüsenpatienten hatte glücklicherweise auch in Frankreich mit der Umstellung keine körperlichen Beschwerden. Wer unter Nebenwirkungen leidet, muss aber wissen, dass es mit der Umstellung des Präparates zu tun haben kann. Denn nur dann kann schnellstmöglich die Dosis – in Absprache mit dem Arzt – angepasst oder auf ein anderes Medikament ausgewichen werden.
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