Eine Mutter sitzt mit ihrem fiebernden Kind bei mir in der Hausarztpraxis. „Schuld sind ja die Masken – das Immunsystem ist kaputt.“ Ich schließe die Augen und atme tief durch.
Vor mir im Sprechzimmer sitzt ein Kind. Es ist sieben Jahre alt und es ist vollkommen in sich zusammengesunken. Die Beine an sich gezogen, liegt es zusammengekauert auf dem Stuhl und man sieht dem Kind an, wie schlecht es ihm geht. Die Augen sind geschlossen, aber es reagiert mit leisen, wimmernden Antworten als ich frage, ob ich es abhören darf. Als ich das Hemd hochschiebe, merke ich, wie es glüht. Das Fieber ist hoch: 39,3 °C messe ich in der Praxis. Zuhause lag die Temperatur bei 40,2 °C, so berichtet es die Mutter.
Die Lunge ist frei, keine Lungenentzündung, keine Bronchitis. Immerhin.
„Lass mich mal bitte in deinen Mund schauen.“
Das Kind öffnet schwach den Mund. Der Rachen ist leicht gerötet, aber ich sehe keine Anzeichen einer bakteriellen Infektion. Bei der Gelegenheit mache ich gleich einen Rachenabstrich auf Influenza und RSV. Der Blick in die Ohren verrät gerötete Trommelfelle, aber das Kind schüttelt den Kopf auf meine Frage, ob die Ohren schmerzen. „Alles tut weh“, sagt es schwach. Lichtempfindlichkeit und Nackensteife kann ich nicht feststellen, das beruhigt mich.
„Der Kinderarzt war telefonisch einfach nicht erreichbar“, erzählt die Mutter. „Und als ich dann durchkam, wurde ich auf den nächsten Tag verwiesen. Aber es geht uns doch heute schlecht.“
Ich kann mir vorstellen, was bei den Kollegen der Pädiatrie aktuell los ist und dass sie gerne alle Kinder behandeln würden, aber keine Kapazitäten mehr haben. Das kenne ich ja aus eigener Erfahrung: Wie oft wird mir vorgeworfen, wir würden einfach nicht ans Telefon gehen. Was – gelinde gesagt – Blödsinn ist, denn eine Mitarbeiterin sitzt den lieben langen Tag am Telefon und beantwortet nur Anfragen. Wir bräuchten aktuell eine ganze Telefonzentrale, am besten outgesourced am anderen Ende der Welt, um dem Ansturm gerecht zu werden.
Also sage ich zur Mutter: „Die Kollegen sind wahrscheinlich heillos überlastet.“
Sie nickt. „Das kann ich verstehen. Schuld sind ja die Masken.“
Innerlich schließe ich meine Augen. Atmen.
Sie fährt fort: „Zwei Jahre haben wir keinerlei Infekte abgekriegt und jetzt ist das Immunsystem kaputt!“
Ich bin müde, das zu diskutieren und sage nichts. Wisst ihr, wer kein Immunsystem mehr hat? Kinder und Erwachsene, die auf eine Stammzelltransplantation vorbereitet werden, weil sie beispielsweise Leukämie haben. Diese armen Menschen haben kein Immunsystem mehr, weil man das alte zerstört, um Platz für das neue zu machen. Sie liegen monatelang in einem Zimmer mit Schleuse, damit ja nicht ein Hauch eines Erregers in ihre Nähe kommt, denn das könnte tödlich sein. Das heißt es, kein Immunsystem zu haben.
Ich schiebe den Gedanken beiseite und dokumentiere meine Untersuchungsergebnisse. Dann erkläre ich ihr, wie sie ihr Kind versorgen und das Fieber senken kann. Die Patientin geht mit ihrem kranken Kind nach Hause. Da es keine Anzeichen einer Komplikation zeigte, konnte ich die Mutter etwas beruhigen. Dennoch ist das Kind sehr krank und es wäre aktuell extrem schwer, ein Bett in einem Krankenhaus zu finden, sollte es ihm schlechter gehen.
Aber ist denn nun etwas dran an dem Vorwurf, die Corona-Maßnahmen seien schuld an den vielen Infekten?
Der Begriff der Immunschuld geistert seit einigen Wochen durch die Medien und auch in der Praxis bekomme ich täglich Fragen oder Aussagen dazu, ob und dass unser aller Immunsystem durch das Tragen von FFP2-Masken und Einhalten der Abstandsregeln in den letzten zwei Jahren quasi lahmgelegt wurde. Dröseln wir das mal auf.
Unser Immunsystem ist ein Wunderwerk. Um es nur grob zu umreißen: Es besteht aus Organen, Zellen und Molekülen, die Krankheitserreger und auch entartete Körperzellen eliminieren. Unser Körper ist täglich einer Vielzahl von Pathogenen ausgesetzt, die Bakterien, Viren, Pilze oder Parasiten sein können. Diese gilt es, zu vernichten. Dafür stehen uns ein angeborenes und ein erworbenes Immunsystem zur Verfügung.
Die Zellen des angeborenen Immunsystems sind zum Beispiel Makrophagen, Mastzellen, natürliche Killerzellen und Granulozyten. Sie stürzen sich auf Eindringlinge und nehmen sie in sich auf, um sie unschädlich zu machen. Dass sie dies getan haben, teilen sie den T- und B-Lymphozyten mit, indem sie Anteile der Pathogene auf ihrer Oberfläche präsentieren. Wie ein Plakat: „Hier, hallo! So sieht der Schurke aus!“ Oder die Schurkin, wir wollen ja gerecht bleiben.
Dann tritt das adaptive (erworbene) Immunsystem auf den Plan: Die T- und B-Lymphozyten lernen durch die Präsentation, also erst nach Kontakt des Körpers mit einem Krankheitserreger, diesen zu zerstören. Dafür werden zytotoxische T-Zellen aktiviert und B-Zellen produzieren Antikörper. Darüber hinaus werden aus B-Zellen sogenannte Gedächtniszellen gebildet, die bei erneutem Kontakt in der Zukunft schneller auf ein Infektionsgeschehen reagieren können. Das Immunsystem hat gelernt.
Das angeborene Immunsystem ist also auch nach zwei Jahren Corona-Maßnahmen noch an Ort und Stelle und nicht lahmgelegt. Das erworbene Immunsystem hat ggf. etwas weniger Training erhalten. Aber: Wir werden tagtäglich mit einer Vielzahl von krankmachenden Erregern konfrontiert. Nicht nur Husten- und Schnupfenerreger an den Händen und Türklinken, auch Keime auf öffentlichen Toiletten und auf Smartphones – Handys sind erwiesenermaßen wahre Keimschleudern.
Um einer Infektion nach dem Toilettengang zu entgehen, waschen wir uns die Hände, eine Schutzmaßnahme quasi. Ist das nun auch schlecht für unser Immunsystem, weil wir ihm die Trainingseinheit nehmen? Nein, natürlich nicht. Wir verhindern eine unangenehme Darminfektion und freuen uns, dass wir gesund sind.
Ähnliches gilt für Parasiten: Wir halten Schutzmaßnahmen ein und essen beispielsweise keine tiefhängenden Brombeeren im Wald, weil wir keinen Fuchsbandwurm bekommen wollen. Verhindern wir dadurch auch eine Trainingseinheit unseres Immunsystems? Nein, selbstredend nicht. Wir schützen uns dadurch.
Wir werden auch im Tagesverlauf mit ausreichend Dreck, Staub und Bakterien aller Art konfrontiert, so dass unser Immunsystem ausreichend Beschäftigung erfährt. Gegen manche Keime gibt es aber keine dauerhafte Immunität. Auch nicht gegen Schnupfenviren, so dass man sich das Training mit diesen Erregern gerne schenken kann.
Ich finde, das Argument mit den ausgeprägten Schutzmaßnahmen und den Masken hinkt. Denn im letzten Jahr haben wir uns doch bereits wieder im Freundes- und Bekanntenkreis ausreichend gesehen, sind in Restaurants und Cafés gegangen und darüber hinaus waren Schulen und Kitas nicht mehr geschlossen. Kinder in Kitas trugen außerdem aufgrund des Alters keine Masken, so dass wir alle weiterhin mit Pathogenen in Kontakt gekommen sind. Nur eben nicht mit allen.
Eine tolle Art und Weise das Immunsystem zu trainieren, sind übrigens Impfungen. Meines Erachtens sind auch Grippe-Impfungen für Kinder als Standardimpfung zu etablieren, denn eine echte Influenza ist ein schweres Krankheitsbild und schwächt das Immunsystem tatsächlich nachhaltig. Ebenso wie Masern oder eine Corona-Infektion. Das natürliche Training durch die Infektion kann bei vielen Infektionen nicht empfohlen werden. Das ist eher, als laufe man ohne Vorbereitung einen Marathon: Selbst, wenn man es schafft, wäre man anschließend wochenlang im Eimer. Wir trainieren unser Immunsystem schließlich auch nicht mit Tetanus oder FSME.
Das RSV kursiert normalerweise in der jungen Altersgruppe vom ersten bis dritten Lebensjahr und kann schwere Atemnot auslösen und damit Kinder in Krankenhäuser bringen. Da die üblichen RSV-Wellen nun also ausgeblieben sind, trifft das Virus auf die Kinder, die im klassischen RSV-Alter sind – und zusätzlich auf die Kinder, die sie im Vorfeld verpasst haben. Daher sind so viele betroffen.
Das Immunsystem der Kinder ist nicht schwächer, sie erleben den Kontakt mit dem Virus nur später. Und das gilt gerade für RSV, Influenza und andere Atemwegsinfektionen, weil überhaupt keine Schutzmaßnahmen mehr eingehalten werden. Wäre es eigentlich so schlimm gewesen, die Maskenpflicht in Innenräumen weiter aufrechtzuerhalten, um die Infektionen auf etwas niedrigerem Niveau zu halten? Wie gesagt: Kleine Kinder in Kindergärten waren von der Maskenpflicht ja sowieso ausgenommen.
Diese Infektionswellen treffen nun auf ein marodes Gesundheitssystem, in dem Kinder leider überhaupt keinen Stellenwert haben. Wir haben die ältere und vorerkrankte Bevölkerung geschützt, als es um das Coronavirus ging und die Klinikbetten knapp wurden. Es gab sogar einen eigenen Index für die Belegung der Betten. Den gibt es aber aktuell nicht. Es gibt lediglich einen Schulterzucken-Index mit vier Stufen:
1. Schulterzucken Grad 1: Ja, blöd. Pädiatrische Praxen sind überfüllt.
2. Schulterzucken Grad 2: Hm. Hausarztpraxen sind auch überfüllt.
3. Schulterzucken Grad 3: Mist, auch keine Klinikbetten frei.
4. Schulterzucken Grad 4: Das konnte ja keiner ahnen.
Jetzt wäre es mal an der Zeit, in diesem Winter unsere Kleinsten in Schutz zu nehmen und für ihr Wohl zu sorgen. Sie sind schließlich unsere Zukunft.
Bildquelle: engin akyurt, Unsplash