Die Zahl scheint ähnlich magisch wie die 10.000 Schritte am Tag: 2 Liter Wasser pro Tag sollte jeder trinken. Ist diese Menge willkürlich gesetzt – oder spricht aus medizinischer Sicht wirklich was dafür?
Mindestens 2 Liter Wasser am Tag – so viel sollten gesunde Erwachsene zu sich nehmen, heißt es oft. Was diese Empfehlungen aber meist nicht differenzieren: ob die Flüssigkeit über die Nahrung oder zusätzliche Getränke aufgenommen wird. Während die Deutsche Gesellschaft für Ernährung rund 1,5 l Wasser zusätzlich zur in fester Nahrung bereits enthaltenen Menge von knapp 900 ml empfiehlt, nehmen Lifestyle-Tipps es oft nicht so genau und runden großzügig auf. So wurde die 2-Liter-Regel zu einer ähnlich etablierten Größe wie die 10.000 Schritte am Tag. Aber warum eigentlich? Dr. Moritz Tellmann, unter anderem Facharzt für Ernährungs- und Allgemeinmedizin, sieht das so: „Ich persönlich gebe da auch keine konkreten Empfehlungen. Manche Menschen wollen sicherlich die 1,5 bis 2 Liter hören, aber eine echte Evidenz dafür gibt es nicht. Die 2-Liter-Regel ist auch mehr eine ‚nicht wissende Sicherheit‘ mit der man ja grundsätzlich erst einmal nicht falsch macht.“
Allerdings sei zu bedenken: „Die Wasserhomöostase im Körper ist neben PH, Temperatur und Blutzucker eine so minutiös geregelte Physiologie, dass vor allem das intrinisiche Durstgefühl für nahezu jeden gesunden Menschen ein guter Indikator für den Bedarf ist. Auch dass es bei Durstgefühl ‚zu spät‘ sei, halte ich für einen absoluten Mythos. Sicherlich spielt auch hier leider das Marketing vieler Getränkehersteller hinein.“ Auch Medienberichten zufolge ist hier ein Marketingtrick schuld, der zum Trinken – und damit erst mal Kaufen – von Flaschenwasser animieren soll. Doch selbst ohne eine Wirtschaftsverschwörung zu wittern, gibt es offenbar gute Gründe, warum beim Wassertrinken weniger oft mehr ist.
Eine Studie hat den tatsächlichen Wasserbedarf eines Menschen auf Basis der Daten von 5.604 Probanden untersucht. Die Teilnehmer waren zwischen 8 und 96 Jahren alt und stammten aus 23 Ländern. Die Forscher maßen den Verbrauch mittel Isotop-Tracking anhand des Waterturnover-Wertes (WT), also der Menge an Wasser, die der Körper pro Tag verbraucht. Wenig überraschend stellte die Autoren fest, dass der WT je nach Körpergröße, Gewicht sowie Aktivitätslevel schwankt. Auch Parameter wie Fitness, Schwangerschaft und sozioökonomischer Status spielten eine Rolle, ebenso wie umweltbedingte Aspekte des jeweiligen Heimatlandes (Luftfeuchtigkeit, Temperaturen, Topografie).
Darüber hinaus spielt aber auch der Index der menschlichen Entwicklung (Human Development Index, HDI) eine Rolle. Der Wert wurde von den Vereinten Nationen geschaffen und ist auch als Wohlstandsindikator bekannt; er berücksichtigt unter anderem Faktoren wie Bruttoeinkommen, Lebenserwartung und Ausbildung. In Ländern mit niedrigem HDI hatten Menschen einen höheren WT als in Ländern mit hohem HDI, auch nach Bereinigung von physiologischen und umweltbedingten Faktoren. Die Autoren führen das auf die unterschiedlichen Lebens- und Arbeitsbedingungen in den jeweiligen Ländern zurück.
Eine bessere Kontrolle des Raumklimas (z. B. durch Klimaanlagen) gleicht offenbar Umwelteinflüsse wie heiße Temperaturen in Ländern mit höherem HDI aus und verringert somit auch den WT. „In Ländern mit hohem HDI und Zugang zu Klimaanlagen und Heizungen sind die Menschen einem eher schmalen Temperaturbereich (18 bis 25 °C) ausgesetzt. Im Vergleich dazu sind Menschen, die in Ländern mit niedrigem HDI leben, eher den Umgebungstemperaturen ohne Klimakontrolle ausgesetzt.“
Ähnliches lasse sich bei den Hauptbeschäftigungen der jeweiligen Bewohner beobachten: Während in Ländern mit hohem HDI sitzende Tätigkeiten den Löwenanteil des (Arbeits-)Alltags für viele ausmachen, sind es in Ländern mit niedrigem HDI vor allem bewegungsintensive Arbeiten. Der WT-Wert war bei Männern im Alter zwischen 20 und 30 Jahren und Frauen zwischen 20 und 55 Jahren insgesamt am höchsten. Den höchsten Körperwasseranteil wiesen Erwachsene zwischen 20 und 40 Jahren auf. Dieser Anteil nimmt im Alter kontinuierlich ab. Abweichungen in Bezug auf Alter und Geschlecht spiegelten sich auch im prozentualen Körperfettanteil wider, welches weniger Wasser enthält als Muskeln und andere Organe.
Dass bei Hitze und körperlicher Anstrengung mehr getrunken wird, ist sicher nicht überraschend. Die Autoren wollen mit ihrer Arbeit aber auch darauf hinweisen, dass ein Wasserkonsum, der über den tatsächlichen Bedarf hinausgeht, schon jetzt ein nicht zu unterschätzender Umweltfaktor ist – und auch in Zukunft sein wird. Wasser sei überlebenswichtig, aber jeder dritte Mensch weltweit (2,2 Milliarden Menschen) habe keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser, heißt es im Abstract der Studie. Aber wie viel Wasser ist denn nun genug und was könnt ihr euren Patienten raten, wenn die Frage mal wieder aufkommt? Wir haben bei zwei Experten für euch nachgefragt.
Prof. Martin Smollich, Institut für Ernährungsmedizin und Leiter der AG Pharmakonutrition am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, teilt die Einschätzung der Publikation, dass viele Trink-Empfehlungen zu hoch greifen, bereits lange. „Es war schon immer falsch, allen Menschen pauschal eine Trinkmenge von 2 l/Tag zu empfehlen – bzw. dieses Trinkmenge sogar als unverzichtbar für eine optimale Gesundheit darzustellen. Die in der aktuellen Publikation angegebenen Einflussgrößen zeigen sehr gut die relevanten Parameter.“ Umweltfaktoren, Fitness, Aktivitätslevel und Alter sollten also bedacht werden. Gerade dieser letzte Faktor kann aber knifflig sein, so Smollich weiter. „Besonders kritisch ist die Trinkmenge bei älteren Menschen, vor allem im Sommer. Durch ein reduziertes Durstgefühl in Kombination mit erhöhten Flüssigkeitsverlusten über den Schweiß sowie teilweise den Vorsatz, möglichst wenig zu trinken (wegen Harninkontinenz) sind ältere Menschen eine Hochrisikogruppe für zu geringe Trinkmengen. Die klinischen Folgen einer solchen Dehydratation können dann sehr schnell lebensgefährlich werden (Elektrolytstörungen, Sturzgefahr, Delir, Herzrhythmusstörungen).“
Auch für Pascal Rappard, Assistenzarzt in der Neurologie, ist die Debatte nicht neu – im Gegenteil: „Das ewige Thema mit der ausreichenden Trinkmenge. Da gibt es tatsächlich seit Jahren immer mal wieder neue Erkenntnisse, die in die eine oder andere Richtung deuten.“ Seiner Erfahrung nach spielt die Trinkmenge eine untergeordnete Rolle, vorausgesetzt, es handelt sich um einen gesunden Erwachsenen. „Natürlich ist eine ausreichende Flüssigkeitszufuhr wichtig, um die Gehirnfunktion zu unterstützen. Ich denke aber, die meisten gesunden Erwachsenen schaffen das sehr gut, auch ohne regelmäßige Erinnerung wie diese Apps, die man hierfür extra herunterladen kann.“ Allerdings gebe es auch Ausnahmen, die zu bedenken seien: Menschen mit psychiatrischen Erkrankungen oder Persönlichkeitsstörungen wie ADHS oder Autismus schaffen es häufig nicht, ein ausreichendes Trink- und Esspensum einzuhalten – regelmäßige Erinnerungen sind nötig.
Rappard weist ebenso wie Smollich auf ältere Patientengruppen hin: „Jeden Tag ergießen sich dutzende exsikkierte Patienten älteren Semesters auf die Notaufnahmen. Gründe sind meist Pflegefehler wie etwa schlicht zu selten gereichtes Wasser. Tatsächlich würde ich aus der Erfahrung heraus behaupten, dass dies der häufigste Grund für eine Krankenhauseinweisung in Verbindung mit Exsikkose ist.“ Erschwerend komme hinzu, dass eine Dehydration bei pflegebedürftigen Patienten oft gar nicht oder erst später erkannt werden. Ich habe viele solcher Patienten gesehen, die dann mit Verdacht auf einen Schlaganfall neurologisch eingewiesen wurden. In solchen Fällen hilft eine intravenöse Flüssigkeitsgabe und wirkt wahre Wunder. Innerhalb weniger Stunden kann man dann meist eine deutliche Besserung des Zustands sehen und die vermeintlichen Schlaganfallsymptome sind passé.“
Hier seien alle Fachgruppen gefragt, vor allem diejenigen, die am meisten mit älteren Patienten in Kontakt kommen: „Fähige Hausärzte und Geriater achten daher auf solche Zustände und ordnen ihren Patienten, auch im häuslichen Umfeld oder im Heim, Flüssigkeitsinfusionen bei Bedarf an, falls die Trinkmenge nicht ausreicht.“
Wenn es allerdings um grundsätzlich gesunde Patienten geht, unterstreicht Tellmann die Faktoren Körpergefühl und Eigenwahrnehmung. „Aus meiner ärztlichen Sicht bleibt deshalb die Flüssigkeitszufuhr auch eine sehr individuelle Angelegenheit, wobei natürlich klar sein sollte, dass ‚banale‘ Symptome bei jungen Menschen wie beispielsweise Kopfschmerzen, Müdigkeit oder Konzentrationsstörungen bei einer geringen Trinkmenge dazu führen sollten, hier rasch zu optimieren.“
Wichtig sei in erster Linie, das Wassertrinken im Alltagsstress nicht zu vergessen – ein durchaus häufiges Problem, von dem auch Ärzte selbst ein Liedchen singen können. „Entscheidend finde ich, als Abschluss-Statement: Die Interozeption, also die Körperwahrnehmung inklusive Durchstgefühl, darf natürlich nicht im Stress und schlechter Planung untergehen. Deshalb sollte Trinken genauso Teil der Tagesplanung sein wie Arbeitstermine, Schlaf und Sport. Denn Gesundheit, Stoffwechsel und ein stabiler Kreislauf fußen natürlich klar auf einer balancierten Flüssigkeitshomöostase!“
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