RSV trifft auf Influenza, zu wenig Betten und Mangel an Medikamenten: Die Kindermedizin brennt. Als wäre das nicht schon genug, rennen uns die Eltern für ihre vermeintlich kranken Kinder die Türen ein.
Eigentlich bin ich sogar als Kinder- und Jugendarzt zum Tagesgespräch geworden, als Teil des Gesundheitswesens, das gerade an die berühmte Wand gefahren wird. Und wie Oliver Welcke so schön sagt: Diesmal ist nicht einmal Corona Schuld. Sondern ein Ding namens RS-Virus, die schnöde Influenza oder sonst welche räudigen Herbstinfekte, die die kleinen Kindergarten- und Schulkinder mit nach Hause bringen. Arbeitstage über zehn Stunden, verschobene Termine, genervte Eltern, übervolle Terminkalender und Telefonwarteschleifen, (Kinder-)Krankenhäuser am Limit und nebenbei das eigene Personal, das es gilt, bei Laune zu halten. Not included: Schreibtischarbeit – „Hallo? Die machst Du doch als Selbstständiger nebenbei …“
Seit Ende September in steter Zunahme, jeden Tag mit der Hoffnung auf den Scheitelpunkt, steigen bei uns die Vorstellungen wegen Rotz und Wasser, Fieber auf Dauer, Husten, Erbrechen und manchmal etwas Durchfall. Es geht durch alle Altersschichten – erstaunlich viele Schulkinder, weniger die Kindergartenkinder, die schaffen es scheinbar, die Viren an ihre kleinen Geschwister weiterzureichen.
Kein Wunder! Die waren ja alle zuhause in den letzten zwei Jahren, das Immunsystem konnte sich gar nicht ausreichend auf die Infekte einstellen, gar nicht trainieren. Und ähnlichen Blödsinn gibt es dann zu lesen, sogar von renommierten Medizinern. Als ob unser Immunsystem im menschlichen Körper durch virale Liegestütze und bakterielle Sit-Ups kleine Muskelchen trimmen müsste. Ganz das Gegenteil ist der Fall: Selten ist das Immunsystem kompetenter als im Säuglings- und Kindesalter. Von Haus aus. Auch ohne irgendein Workout.
Was den Kleinen allerdings gefehlt hat, ist die Auseinandersetzung mit spezifischen Viren, beispielhaft dem RS-Virus. Alle Kinder ohne Ausnahme durchlaufen die Infektion mit dem RSV irgendwann im Leben, meist im Kindergartenalter. Dank des Maskentragens und der Schließungen in den Gemeinschaftseinrichtungen haben manche das Virus in den letzten zwei Jahren nicht „mitgenommen“ – dies wird nun nachgeholt. Und zwei oder drei Jahrgänge entwickeln nun gleichzeitig RS-Infektionen.
Eine höhere Zahl bedeutet auch eine höhere Viruslast in der Bevölkerung und damit ein höheres Risiko, sich das Virus auch außerhalb der Kita einzufangen. Ähnliches gilt für die Influenza, sodass in dieser Saison die RSV-Infektionen auf die Grippewelle treffen. Von den anderen unter ferner liefen, wie Rhinoviren, noch gar nicht gesprochen. Über Scharlachhäufungen, z. B. in Großbritannien, sprechen wir ein anderes Mal – vermutlich gibt es hier einen gleichen Effekt.
Die Folge sind überlastete Kinder- und Jugendarztpraxen und Kinderkliniken. Zur Einschätzung der Lage bei uns: In diesem vierten Quartal 2022 haben wir bereits jetzt in der ersten Dezemberwoche soviele Kinder gesehen wie im ganzen 4. Quartal 2021 zusammen. Wir behandeln aktuell (zu zweit) mindestens 130 Kinder pro Tag, an Spitzentagen auch 160-170 Kindern, dazu kommen 40-50 Beratungen durch die MFA am Telefon. Während unsere offizielle Sprechzeit um 17 Uhr endet, gehen die letzten Patienten um 18:30 Uhr aus der Tür. Hatte ich schon erwähnt, dass dann noch mindestens eine Stunde Schreibtischarbeit auf mich wartet?
Im Notfalldienst am Wochenende werden an unserer Kinderklinik von den Niedergelassenen im Dienst zwischen 8 Uhr und 22 Uhr bis zu 200 Kinder behandelt, am Abend der Werktage zwischen 18 Uhr und 22 Uhr ebenfalls 40 Kinder. Dabei geht es auch darum, Krankenhausaufenthalte zu verhindern. Denn viele der (vor allem sehr kleinen) Kinder wären krankenhauspflichtig. So sehen wir sie zwei oder dreimal in der Woche, um ihren (meist schlechten) Zustand zu prüfen, die Sauerstoffsättigung zu bestimmen, die Eltern zu beruhigen und Optimismus zu verbreiten.
Denn in die Klinik können wir kaum noch ein Kind schicken: Sie sind selbst überlastet, die Betten restlos belegt, das Personal ausgedünnt und am Ende der Möglichkeiten. Laut einer Umfrage der DIVI (Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin) hatten 43 von 110 Kinderkliniken kein einziges Bett mehr auf Normalstation frei, bundesweit gab es nur noch 83 Intensivbetten für Kinder (Stand 1.12.2022). Umgerechnet ist das nicht einmal ein Bett pro Klinik.
In der Praxis müssen wir den Mangel verwalten. Wir verlegen Vorsorgetermine, die zeitlich nicht dringend sind (vor allem Jugenduntersuchungen, U10 und U11) und schieben Kontrolltermine für Lungenfunktionen oder Sportärztliche Untersuchungen, die nicht als Kassenleistungen laufen. Manche Vorsorgen können nicht verschoben werden: die der Säuglinge und Vorschulkinder. Das Risiko, dass wir sonst Entwicklungsverzögerungen übersehen, ist zu groß. Durch die Verschiebungen öffnen wir Lücken für Akutpatienten, denn ab Beginn der Telefonerreichbarkeit am Morgen steht das Telefon nicht still. Übrigens in allen Kinder- und Jugendarztpraxen.
Viele Kollegen haben Telefonanlagen mit Warteschleifen installiert, ermöglichen die Kontaktaufnahme durch E-Mails oder sogar eine Terminbuchung bei Online-Portalen. Aber alle diese Maßnahmen haben ihre Krücken: Jede Telefonanlage geht irgendwann in die Knie – ganz zu schweigen vom Nadelöhr Telekom oder Vodafone – und Warteschleifen bis zu einer Stunde zermürben die Eltern. E-Mails müssen gelesen und beantwortet werden, das und die Telefonsprechstunde bindet die Womanpower der MFA. Wir haben aktuell immer zwei Mitarbeiter am Telefon und dem Termin-PC, zwei an der Anmeldung, und eine oder zwei zum Setzen und Versorgen der Kinder. Onlinetermine bergen das Risiko, ungefiltert Termine zu blockieren, es findet ja keine Beurteilung am Telefon vor Terminvergabe statt.
Dennoch beschweren sich die Eltern. Ich verstehe das sogar: Eltern haben eine eigene eingeschränkte Perspektive auf ihre Kinder, vor allem das eigene Kind ist besonders krank, hat Husten und Fieber seit Tagen und wiederholt seit Wochen. Ich habe eine andere Perspektive, denn *das* berichten alle Eltern genauso mehrmals am Tag. Denn: Alle sind krank. Und das bedeutet: Alle sind krank. Aber manche eben mehr als andere, und genau diese gilt es herauszufiltern.
Das schaffen meine fantastischen MFA durch gezielte Fragen am Telefon (ja, bei uns wird triagiert!), durch Beratung, mit Durchhalteparolen und Vereinfachungen im Ablauf. Kinderkrank-Zettel gibt es per Telefon, ebenso Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen für Jugendliche in der Ausbildung, auch Rezepte für Läuse- oder Wurmmittel stellen wir großzügig aus. Was nicht geht: Schulbescheinigungen, weil „das eben so ist“, weil „drei Tage krank“ oder „vor den Ferien“. Liebe Schulen: Wir haben Kinderarztpraxen am Anschlag, da können wir auch nicht Euren bürokratischen Ansprüchen genügen.
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Und die Eltern beschweren sich: Sie drohen mit Arztwechsel und Anwälten, schlechten Googlebewertungen und werden schlicht laut an den Tresen. Meine MFA werden beschimpft, sie „spielen Arzt und wimmeln Patienten ab“, sie „legen den Telefonhörer daneben und quatschen nur“ und natürlich der Klassiker: „Das ist nur bei Ihnen in der Praxis so, woanders bekommen wir a) alles auf Rezept, b) immer telefonisch durch oder c) immer einen Termin, wenn wir das wollen (Unpassendes bitte streichen).“ Eltern bestehen auf ihre Vorsorgeuntersuchung genau jetzt und heute, obwohl wir um Verständnis bitten, dass wir jede freie Minute für die akut Erkrankten brauchen, und die Gesunden (ja, zur Vorsorge!) grade nicht in der Praxis haben wollen.
Dann gehen die Eltern mit ihren Bagatellerkrankungen eben ins Krankenhaus oder rufen den Rettungswagen, weil „das Kind innerhalb von einer halben Stunde 40 Fieber bekommen hat“. Die Notfallambulanzen der Kinderkliniken sind so überlaufen wie die Stationen dort. Ersteres, weil die *Notfall*-Definition eine sehr subjektive ist und sich dem Zeitgeist des „jetzt und sofort“ und „alles ganz schlimm und noch nie so schlimm“ unterordnen muss; nichts kann mehr bis zum nächsten Tag warten und keine Erkrankung darf hier einen normalen (harmlosen) Verlauf nehmen.
Die Kinderklinik-Stationen sind überlaufen, weil die Infektwelle dieses Jahr eine heftige ist und viele Kinderkliniken kaputtgespart und abgewickelt wurden, teils komplett geschlossen, teils auf lukrative Frühgeborenenversorgung umgestellt und damit in der breiten allgemeinpädiatrischen Versorgung unterversorgt wurden. Die Entwicklung ist komplex, ein großer Faktor sind die DRGs (diagnose related groups), bei denen pro Krankheit ein bestimmter Geldbetrag an die Krankenhäuser gezahlt wird – egal, wie lange oder wie kompliziert sich der Krankenhausaufenthalt gestaltet. Bei Kindern leider unberechenbar, deshalb unpraktikabel, langfristig ein Verlustgeschäft für den Wirtschaftsstandort Klinikum. Viel Geld bringt die Frühgeborenenversorgung, aber nicht jede Kinderklinik kann das anbieten, die kleineren Kliniken werden geschlossen, die ansteigenden Patientenzahlen verteilen sich auf weniger Kliniken.
Ob die Herausnahme der Pädiatrie aus dem DRG-System kommt, ist in Teilen der Regierung umstritten, der Bundesgesundheitsminister hat hingegen eine Reform des DRG-Systems für Kinderkliniken als Teil eines Entlastungspaketes angekündigt. Dramatisch ist, dass der oft zitierte Karren erst an die Wand fahren muss, bevor sich etwas bewegt. Bereits bei der letztjährigen RSV-Welle warnten Kinderärzte und Krankenhausökonomen vor dem Kollaps des Systems, trotzdem wurde nochmal ein Jahr abgewartet, ob sich etwas ändert. Spoiler: Hat es nicht.
„Normale“ Krankenhausaufenthalte werden abgebrochen, um für neue akut erkrankte Säuglinge mit RS-Virus Platz zu schaffen. Säuglinge, die einen Tag zuvor noch Sauerstoffbedarf hatten, werden hustend und fiebernd entlassen; wir sehen sie dann oft täglich in der Praxis, um keine Verschlechterungen zu verpassen. Die nächstgelegene Kinderklinik kann durch Einweisungen nicht angefahren werden, Kollegen suchen in der Umgebung nach freien Betten. In unserer Gegend sind glücklicherweise ein paar Kliniken zur Auswahl, ich möchte mir nicht ausmalen, wie das in der Fläche aussieht, wenn die nächste erreichbare Kinderabteilung bereits hundert Kilometer entfernt ist.
Sollen wir noch über den Mangel an Medikamenten sprechen? Fiebersäfte? Antibiotika?
Bildquelle: Zan, unsplash