Molekularbiologische Analysen decken immer mehr Schwachstellen von Krebserkrankungen auf und ermöglichen eine gezielte Krebstherapie: „Targeted Therapies“ ersetzen zunehmend Chemotherapien. Aber die individuelle Therapie stößt im Klinikalltag noch auf Grenzen.
Vukasin S. traf die Krankheit gleich doppelt: Ärzte entdeckten bei ihm vor knapp zehn Jahren einen Tumor der Niere und Anomalien im Blutbild. Nach erfolgreicher OP rätselten Onkologen, wie sie die Leukämie therapieren könnten – eine Chemotherapie kam aufgrund der angegriffenen Niere nicht infrage. Doch Obinutuzumab führt letztlich zum Erfolg. Der humanisierte, monoklonale Antikörper richtet sich gezielt gegen CD20-positive B-Lymphozyten. Er kommt bei therapieresistenten chronisch-lymphatischen Leukämien oder bei Non-Hodgkin-Lymphomen zum Einsatz. Patienten leben länger als nach alleiniger Chemotherapie – bei geringeren Nebenwirkungen.
Mittlerweile haben kleine, innovative Moleküle („small molecules“) die Behandlung maligner Erkrankungen revolutioniert. Einige Beispiele: Tragen Krebszellen auf ihrer Oberfläche spezifische Rezeptoren, die auf anderen Zellen nicht vorkommen, lassen sich monoklonale Antikörper entwickeln. Dazu gehören unter anderem Cetuximab, Ipilimumab, Rituximab sowie Trastuzumab. Als weitere Strategie setzen Ärzte auf die Hemmung von Angiogenese-Mechanismen. Bevacizumab fängt den Wachstumsfaktor VEGF (Vascular Endothelial Growth Factor) ab – eine Option bei zahlreichen Krebserkrankungen. Darüber hinaus versuchen Forscher, Stoffwechselwege in entarteten Zellen zu stören. Als mögliche Targets fanden sie Inhibitoren der Tyrosinkinase (Erlotinib, Gefitinib sowie Imatinib). Patienten profitieren von geringeren Nebenwirkungen im Vergleich zur unspezifischen Chemotherapie. Professor Dr. Michael Hallek von der Kölner Uniklinik vermutet sogar, in einigen Jahren könnten „targeted therapies“ Chemotherapien bei den meisten Krebsarten ersetzen.
Trotzdem bleiben Herausforderungen. Aufgabe von Ärzten ist, für einen individuellen Patienten zum richtigen Zeitpunkt das passende Pharmakon aus einer Vielzahl von Substanzen auszuwählen. Am Beispiel von Bronchialkarzinomen zeigen Forscher, dass bereits heute personalisierte Therapien möglich sind. Ihre Herangehensweise lässt sich auf viele maligne Erkrankungen übertragen. Gemäß des Prinzips „zentral testen, dezentral behandeln“ senden Ärzte Biopsien an das Netzwerk Genomische Medizin Lungenkrebs (NGML) am Centrum für Integrierte Onkologie (CIO) Köln/Bonn. Nachdem entsprechende Proben molekularpathologisch untersucht wurden, folgt eine Empfehlung zur Therapie – sowohl mit zugelassenen als auch mit experimentellen Pharmaka. Die AOK Rheinland/Hamburg zahlt als Partner im Netzwerk 1.750 Euro für Untersuchung und Empfehlung – Zweitmeinungen schlagen mit 200 Euro zu Buche. Damit haben neue Pharmaka einen Weg in die Regelversorgung gefunden, wenn auch nur im Rahmen von Modellprojekten.
Patienten profitieren von der neuen Herangehensweise deutlich. Professor Dr. Jürgen Wolf, ärztlicher Leiter des CIO, berichtet, bei mehr als 50 Prozent der Proben seien tumorrelevante Alterationen aufgetreten. Das betrifft Gene wie ALK, BRAF, EGFR, HER2 oder KRAS. Wissen dies Ärzte, können sie zum besten Medikament greifen. Laut Wolf beträgt die Lebenserwartung unter Chemotherapie bei Patienten mit Bronchialkarzinom zehn bis zwölf Monate – im Vergleich zu drei Jahren bei zielgerichteter Behandlung. Patienten mit bestimmten EGFR-Mutationen profitieren besonders stark von EGFR-Inhibitoren. Bei ihnen verlängerte sich das Gesamtüberleben um 20 Monate, verglichen mit klassischen Chemotherapien. Traten Rearrangements bei ALK auf, lag der Gewinn bei zwölf Monaten.
Am Nationalen Centrum für Tumorerkrankungen (NCT) Heidelberg haben Forscher ebenfalls das Erbgut im Visier. Sie setzen auf die Analyse ganzer Krebsgenome aus Biopsien. Bis 2015 wollen sie bei jedem der 10.000 Patienten pro Jahr eine Totalsequenzierung des Krebsgenoms vornehmen. „Individuelle Unterschiede im molekularen Profil von Tumoren werden zukünftig immer häufiger als Basis für Therapieentscheidungen herangezogen“, sagt Professor Christof von Kalle, Sprecher des NCT-Direktoriums. „Auf dieser Grundlage möchten wir nun die individualisierte Krebsmedizin am NCT systematisch weiterentwickeln und das NCT zu einem internationalen Spitzenzentrum der individualisierten Krebsmedizin ausbauen.“ Dank moderner Labors mit Next-Generation-Sequencing-Technologien gelingt es heute schnell und preiswert, hinter die Fassade maligner Erkrankungen zu blicken. Dazu ein paar Zahlen: Bei der Totalsequenzierung von Medulloblastomen traten mehr als 760 Mutationen in knapp 600 Genen zu Tage – eine gewaltige Informationsmenge. Hier spielen Computertechnologien eine zentrale Rolle, um Rohdaten auszuwerten. Bioinformatiker widmen sich auch der Frage, wie Resistenzen entstehen.
Während das CIO und das NCT auf molekularbiologische Analysen setzen, schlägt Jeffrey Engelman vom Massachusetts General Hospital in Boston pragmatische Wege ein, um noch gezielter passende Moleküle zu finden. Mithilfe von Fütterzellen (feeder cells) gelang es ihm in vielen Fällen, aus Biopsien von Patienten mit nicht-kleinzelligem Bronchialkarzinom Zellkulturen anzulegen. Alle Personen litten nach anfänglichen Behandlungsversuchen mit Tyrosinkinase-Inhibitoren an Rezidiven. Engelman exponierte Zellen in vitro mit 76 Pharmaka, von denen sich noch 59 in der klinischen Erprobung befanden. Dabei kombinierte er auch Wirkstoffe. Beispielsweise führte ein MEK-Inhibitor zusammen mit einem ALK-Inhibitor zum gewünschten Erfolg. In anderen Fällen machten SRC-Inhibitoren die Resistenz von ALK-positiven Tumoren zunichte. Aufgabe von Onkologen ist es jetzt, Ergebnisse aus dem Labor in die Praxis zu übertragen.