Zwei Eckpunktepapiere der Ampel-Koalition auf dem Gabentisch: Mit einem Generikagesetz und einer Ernährungsstrategie sollen im neuen Jahr wichtige Weichen neu gestellt werden. Lest hier, was sich ändern soll.
Rund zwei Drittel der Männer und jede zweite Frau sind in Deutschland übergewichtig. Auch bei den Kindern ist eine besorgniserregende Entwicklung zu sehen: Jedes sechste Kind, bei den 11–13-Jährigen sogar jedes fünfte, leidet an Adipositas. Klar ist also: In Sachen Ernährung muss sich etwas ändern – und der Plan hierfür wurde in den letzten Wochen und Monaten geschmiedet. Cem Özdemir, Minister für Ernährung und Landwirtschaft, stellte heute die Eckpunkte vor, über die sich das Bundeskabinett bezüglich seiner Ernährungsstrategie beraten hat.
Wenn es um eine gesunde Ernährung geht, legt der Grünenpolitiker seinen Fokus immer wieder auf das Thema Gerechtigkeit. Aus einer Arbeiterfamilie stammend, die aus der Türkei nach Deutschland gekommen ist, kenne er den Alltag vieler Kinder aus einkommensschwachen Familien, die sich mehrmals die Woche von Currywurst und Pommes ernähren würden, so erzählt er in diversen Interviews. Schaue man auf die Bevölkerungsgruppen, die besonders mit den Folgen einer ungesunden Ernährung zu kämpfen hätten, so lande man immer wieder bei den Einkommensschwachen.
Dort soll auch die neue Ernährungsstrategie der Bundesregierung ansetzen: Kinder sollen lernen, welche Lebensmittel gesund sind. In Kindersendungen soll Werbung für Zucker- oder Kalorienbomben in Zukunft verboten werden. Hierfür habe die Ampel-Koalition bereits Rückendeckung von Wissenschaft, Krankenkassen und Elternvertretungen. „Wir arbeiten gerade an einer Vorlage, wie das rechtlich aussehen könnte“, so der Minister in einem Interview im Tagesspiegel. „Geld damit verdienen, indem man die Gesundheit der Kinder ruiniert, das halte ich für keinen guten Weg.“
Kantinen in Kitas, Schulen, Krankenhäusern und Pflegeheimen sollen außerdem bei ihren Zutaten künftig einen Bio-Anteil von 30 Prozent integrieren. „Jedes Kind, welches in der Schule versorgt wird, soll ein vollwertiges, gesundes Essen aus Produkten der deutschen Landwirtschaft erhalten können. Gerne saisonal, gerne regional“, so Özdemir in einem ARD-Interview. Es solle hier nicht nur um Produkte mit dem Bio-Siegel gehen – er möchte weniger Salz, Zucker und Fett, dafür mehr pflanzenbasierte Ernährung. Für die Umsetzung möchte er die Standards der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE) bis 2030 allgemeinverbindlich machen. Wie das am Ende finanzierbar sein soll, steht noch in den Sternen. „In Dänemark geht das, auch ohne dass die Preise durch die Decke gehen“, entgegnet Özdemir der Presse gegenüber.
Das Thema ist wichtig – dass es angegangen werden muss, dem dürften auch viele Ärzte zustimmen. Sie sehen im Alltag die Auswirkungen von schlechter Ernährung hautnah an ihren Patienten. Erst vor zwei Wochen wendeten sich Experten aus Medizin und Ernährungswissenschaften an Özdemir in einem offenen Brief. Sie fordern u. a. eine bessere Finanzierung der Krankenhausverpflegung sowie verpflichtende Standards für eine vollwertige, pflanzenbetonte und nachhaltige Ernährung in Krankenhäusern.
Ein weiterer Faktor, ohne den das Thema Ernährung nicht angegangen werden kann, sind die Landwirtschaft und die Tierhaltung in Deutschland. Hierfür legte das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) heute die Eckpunkte für das Bundesprogramm zur Förderung des Umbaus der Tierhaltung vor. Es soll eine Milliarde Euro als Anschubfinanzierung umfassen und Investitionen in zukunftsfeste Stallbaumaßnahmen sowie laufende Mehrkosten, die durch eine besonders tier- und umweltgerechte Tierhaltung entstehen, fördern. Durch die aktuell akuten Herausforderungen in der Schweinehaltung soll in diesem Bereich als erstes angesetzt werden.
„Wir brauchen die landwirtschaftliche Tierhaltung und den dabei anfallenden Wirtschaftsdünger, wenn wir zu nachhaltigen Kreisläufen kommen wollen“, so Özdemir. Niemand solle die Augen vor den Entwicklungen der letzten Jahre in diesem Bereich verschließen. „Die deutsche Tierhaltung steckt schon länger in einer Krise, auch, weil viel für den Export produziert wurde.“ Wegen der Afrikanischen Schweinepest nehme China kein deutsches Schweinefleisch mehr ab. Strategien, mit dem Ziel, dass sie wenigstens deutsches Fleisch aus ASP-freien Gebieten kaufen, seien gescheitert. „China baut inzwischen riesige eigene Produktionskapazitäten auf“, so Özdemir.
In Deutschland geht der Konsum von Fleisch insgesamt, insbesondere aber der von Schweinefleisch, deutlich zurück. „Wir müssen die Tierbestände reduzieren. Im Moment ist es allerdings so, dass mehr Tierhalter aufgeben, als der Fleischkonsum sinkt. Als Folge kommt mehr Fleisch aus dem Ausland. Das ist problematisch, denn die Bedingungen für die Tiere sind dort oft schlechter als bei uns. Wir wollen, dass Tiere besser gehalten werden und die Landwirtinnen und Landwirte damit gutes Geld verdienen können“, kommentiert Özdemir die neue Strategie der Bundesregierung. Eine Haltungskennzeichnung, die neben den Mastbetrieben auch auf weitere Haltungsbetriebe in der Kette, die Gastronomie, verarbeitete Produkte sowie weitere Tierarten ausgeweitet werden soll, ist schon in Planung. Hier fehlt aber noch grünes Licht aus Brüssel.
Bereits am Dienstag hatte Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach das Eckpunktepapier zum Generika-Gesetz vorgestellt, mit dem die Ampel-Koalition das seit Langem bestehende und zuletzt durch das „Fiebersaft-Gate“ medial akut gewordene Problem der Lieferengpässe bei generischen Medikamenten angehen will. Es sind bis jetzt nur Eckpunkte, die eigentlich gesetzgeberische Arbeit kommt erst noch. Dennoch handelt es sich um den ersten ernsthaften Versuch seit Langem, bei dem heiklen Thema politisch voranzukommen.
Das Eckpunktepapier enthält mehrere Maßnahmen, die sowohl kurz- als auch längerfristig Wirkung entfalten. Der derzeitigen Situation bei Kinderarzneimittel geschuldet, geht es zum einen um Kinder: Hier soll beim BfArM eine Liste von Arzneimitteln entstehen, die für die Sicherstellung der Versorgung bei Kindern erforderlich sind. Für diese Arzneimittel sollen künftig keine Rabattverträge mehr abgeschlossen und keine Eingruppierung in Festbetragsgruppen mehr vorgenommen werden. Als akute Maßnahme soll zudem der aktuelle Festbetrag, bzw. wenn kein Festbetrag existiert der aktuelle Preismoratoriums-Preis, für entsprechende Arzneimittel um 50 Prozent angehoben werden. Die Kosten soll die GKV übernehmen.
Auf Rabattvertragsebene sollen – unabhängig von Kindern oder nicht Kindern – Maßnahmen ergriffen werden, die zu einer Diversifizierung der Lieferketten und einer verbindlichen Bevorratung führen. Vorgesehen ist u. a. eine so genannte Standortberücksichtigung. Sie würde dazu führen, dass in den Verträgen nicht nur der Preis, sondern auch ein noch zu definierendes Quorum an Herstellung innerhalb der EU für einen Zuschlag relevant wird. Das soll zunächst Onkologika und Antibiotika betreffen. Zudem soll für rabattierte Arzneimittel vertraglich eine mehrmonatige, versorgungsnahe Lagerhaltung erreicht werden.
Weitere vorgesehene Maßnahmen betreffen ein Verfahren zur früheren Erkennung von Versorgungsengpässen, bedarfsweise Veränderungen bei den Festbeträgen über Kinderarzneimittel hinaus sowie vereinfachte Austauschregelungen in Apotheken bei kritischer Versorgungslage. Zentrales Organ der bedarfsweisen Maßnahmen soll der Beirat zu Liefer- und Versorgungsengpässen beim BfArM sein, der schon existiert, aber bisher politisch wenig in Erscheinung getreten ist.
Engpässe bei Arzneimitteln sind kein neues Thema. Engagierte Apotheker wie Prof. Frank Dörje vom Universitätsklinikum Erlangen trommeln seit Jahren, wenn nicht Jahrzehnten. Ein durchschnittliches Universitätsklinikum hat Jahr für Jahr mit im Mittel rund 150 Lieferengpässen zu tun. Im Krankenhaussektor betrifft das vor allem Onkologika und Antibiotika, aber auch intensivmedizinische Apparate wie etwa Propofol oder Midazolam sowie einige Muskelrelaxanzien.
Dass das Generikagesetz genau jetzt kommen soll, hängt aber nicht nur mit diesem lange bekannten Problemen zusammen, sondern auch mit der medialen Aufmerksamkeit, die das Thema mittlerweile genießt. Geholfen hat hier zum einen die Corona-Pandemie, zum anderen die aktuelle Infektionswelle mit ihrem Engpass bei den fiebersenkenden Säften – streng genommen ein Nebenkriegsschauplatz. Hier gab es im Vorfeld der Eckpunkte eine etwas bizarre Diskussion in den üblichen Social-Media-Blasen über die Frage, ob das, was bei den Fiebersäften im Moment zu sehen ist, ein Lieferengpass sei oder nicht. Die Argumentation lief so, dass Fiebersäfte im Ausland ja noch lieferbar seien und entsprechend nicht von einem Lieferengpass gesprochen werden könne. Die Probleme seien vielmehr Folge der aktuellen Infektionswellen.
Hintergrund ist u. a die BfArM-Definition von Lieferengpass, wonach davon erst gesprochen wird, wenn ein Medikament mindestens zwei Wochen nicht mehr lieferfähig ist. Nun war es aber genau diese wenig versorgungsnahe Definition, die die Diskussion über Lieferengpässe in Deutschland jahrelang so mühsam und wenig fruchtbar machte. Ein klassisches Beispiel ist das Antibiotikum Piperacillin/Tazobactam, das regelmäßig Probleme macht. Dörje zufolge gab es lange Zeit nur zwei Hersteller, einer in China mit 70 % Weltmarktanteil und einer in Italien mit 30 %. Als eine Kläranlage in dem chinesischen Werk ausfiel, brachen auf einen Schlag 70 % weg. Ein klarer Lieferengpass, auch wenn das Produkt durchaus noch erhältlich war. Es war nur nicht im erforderlichen Umfang erhältlich und ging an die, die am meisten zahlten. So ähnlich ist das aktuell auch bei den Fiebersäften.
Schräg waren die Engpass-Diskussion in Deutschland lange Zeit auch deswegen, weil viele so taten, als gebe es mehr Liefersicherheit quasi umsonst. Man muss ja einfach nur die Rabattverträge bzw. die (in den Eckpunkten bisher gar nicht adressierten) Verträge der Einkaufsverbünde der Krankenhäuser ein bisschen umschreiben und fertig. Alternativ gibt es die politisch gut verkaufbare These, man müsse einfach nur bei den neuen Arzneimitteln ein bisschen vom Kuchen wegschneiden, um bei den Generika mehr Geld zur Verfügung zu haben. Das ist natürlich naiv, zumal beide Märkte komplett unterschiedlich funktionieren. Die in den Eckpunkten vorgesehenen Vorschläge für insbesondere die Rabattverträge werden in jedem Fall dazu führen, dass Generika deutlich teurer werden.
Entsprechend fallen dann auch die unterschiedlichen Reaktionen in Berlin aus. Der Spitzenverband der Gesetzlichen Krankenversicherung spricht von Weihnachtsgeschenken für die Pharmaindustrie. Gertrud Demmler, Chefin der Siemens BKK, fragt auf Twitter: „Ernsthaft? Werden staatliche Preise jetzt das Mittel der Wahl auch im Gesundheitswesen?“
Die Ärzte sind da schon positiver gestimmt. Die Gesetzesinitiative gehe in die richtige Richtung, so die KBV. Auch bei der Generikaindustrie gibt es erwartungsgemäß Zustimmung: „Das Bundesgesundheitsministerium hat endlich erkannt, dass das Hauptsache-Billig-Prinzip bei Generika die Versorgung destabilisiert hat und zu Engpässen führt. Es ist gut, dass es jetzt gegensteuert und in einzelnen Bereichen den extremen Kostendruck lockern will. Damit geht es an die Wurzel des Problems“, lässt sich Bork Bretthauer, Geschäftsführer des Verbands Pro Generika, zitieren.
Ein Text von Lea Wask und Philipp Grätzel
Bildquelle: Brett Sayles, Pexels