Ein neues Modell hilft, die Entstehung einer Autismus-Störung besser zu verstehen. Es zeigt, wie Risikofaktoren zusammenwirken und warum Jungen häufiger eine Diagnose erhalten als Mädchen.
Autismus ist eine neurologische Entwicklungsstörung, die sich darauf auswirkt, wie Betroffene die Welt um sich herum wahrnehmen und mit anderen interagieren und kommunizieren. Da es zahlreiche unterschiedliche Erscheinungsformen gibt, wird die Störung als ein Spektrum betrachtet. Ein neues Modell hat nun verschiedene Faktoren zusammengefasst, die zu einer Autismus-Diagnose führen können bzw. wie diese zusammenwirken und andere neurologische Entwicklungsstörungen auslösen. Das Erklärungsmodell ist theoretisch und gleichzeitig praktisch anwendbar, da seine verschiedenen Komponenten – z. B. durch Fragebögen, genetische Kartierung und psychologische Tests – messbar sind.
Das Modell verknüpft drei Einflussfaktoren, die zusammengenommen die Kriterien einer Autismus-Diagnose erfüllen:
Die Faktoren sind unterschiedlich stark gewichtet und ergeben zusammen die Diagnose Autismus. Credit: Darko Sarovic.
„Die autistische Persönlichkeit ist sowohl mit Stärken als auch mit Schwächen im kognitiven Bereich verbunden, was jedoch nicht per se bedeutet, dass die Diagnosekriterien erfüllt sind. Wenn Menschen jedoch Risikofaktoren ausgesetzt sind, die ihre Kognition beeinträchtigen, kann dies ihre Fähigkeit, Schwierigkeiten zu bewältigen einschränken. Dies ist häufig ausschlaggebend für eine Autismus-Diagnose“, erklärt Dr. Darko Sarovic, der das Modell entwickelte. Das Schema macht deutlich, dass die Kombination der vielen verschiedenen Risikofaktoren die großen Unterschiede zwischen den Betroffenen erzeugen.
Ausgeprägte Exekutivfunktionen können Autismus-Patienten dazu befähigen, ihre Beeinträchtigung zu kompensieren, sodass die Symptome abgeschwächt werden. Dies verringert ihr Risiko, die Diagnosekriterien für Autismus zu erfüllen – ein Erklärungsansatz dafür, warum Forscher bei Menschen mit Autismus-Diagnose häufig eine verminderte Intelligenz und anderen neurologischen Entwicklungsstörungen beobachten oder geistige Behinderungen in diesen Gruppen häufiger auftreten. Das Modell deutet also darauf hin, dass geringe kognitive Fähigkeiten nicht zwangsläufig Teil der autistischen Persönlichkeit sind, sondern eher ein Risikofaktor, die Diagnosekriterien zu erfüllen.
„Die autistische Persönlichkeit ist mit verschiedenen Stärken verbunden. Zum Beispiel sind Eltern von Kindern mit Autismus unter Ingenieuren und Mathematikern überrepräsentiert. Die Eltern selbst haben wahrscheinlich ihre eigenen autistischen Persönlichkeitsmerkmale kompensieren können und somit die Kriterien für eine Autismusdiagnose nicht erfüllt. Die Auswirkungen der Störung haben sich dann bei ihren Kindern stärker bemerkbar gemacht, zum Beispiel aufgrund von Risikofaktoren und relativ geringen kognitiven Fähigkeiten“, sagt Sarovic.
Die Diagnose Autismus wird häufiger bei Jungen als bei Mädchen gestellt, Mädchen erhalten ihre Diagnose zudem oft erst später im Leben – einige erst im Erwachsenenalter, nachdem sie jahrelang unter diffusen persönlichen Problemen litten. „Die Symptome von Mädchen sind für andere Menschen oft weniger offensichtlich. Es ist bekannt, dass Mädchen im Allgemeinen über bessere soziale Fähigkeiten verfügen, was wahrscheinlich bedeutet, dass sie ihre eigenen Schwierigkeiten besser kompensieren können. Mädchen neigen auch dazu, weniger autistische Züge zu zeigen und weniger anfällig für die Auswirkungen der Risikofaktoren zu sein. Das Modell kann also dazu beitragen, geschlechterspezifische Unterschiede zu erklären“, so Sarovic.
Das Modell schlägt auch Möglichkeiten zur Messung der drei Faktoren vor. Damit könnte es in Zukunft bei der Planung von Studien und der Interpretation ihrer Ergebnisse eingesetzt werden. Ein weiterer denkbarer Einsatzbereich ist die Diagnostik: In einer Pilotstudie konnten Autisten und Kontrollpersonen durch die Messung der drei Faktoren bereits mit einer 93 prozentigen Sicherheit der richtigen Kategorie zugeordnet werden. Das Modell kann auch verwendet werden, um die Entstehung anderer neurologischer Entwicklungsstörungen wie Schizophrenie zu erklären.
Dieser Text basiert auf einer Pressemitteilung des Schwedischen Forschungsrats – The Swedish Research Council. Hier findet ihr die Originalpublikation.
Bildquelle: J Venerosy, unsplash.