„Sie müssen damit leben, da kann man halt nichts machen!“ – wer das seinen Migräne-Patienten sagt, ist einfach nur faul. Welche neuen Therapieoptionen 2023 bringt und wie ihr Betroffenen auch ohne Tabletten helfen könnt, erfahrt ihr hier.
Die Migräne ist weit verbreitet: Zwischen 15,6–24 % der Frauen und 4–11% der Männer in Deutschland sind von episodischer oder chronischer Migräne betroffen. Und obwohl wirksame Methoden zur Akuttherapie und Prophylaxe zur Verfügung stehen, sieht die Versorgungsrealität in Deutschland noch mau aus. So legt beispielsweise eine Studie aus einem Hamburger Schmerzzentrum nahe, dass nur rund ein Drittel aller Migränepatienten leitliniengerecht behandelt wird. Obwohl die Prophylaxe wichtig ist, um einer Chronifizierung und Übergebrauchskopfschmerzen vorzubeugen, nehmen einer Auswertung des DMKG-Kopfschmerzregisters zufolge nur 45 % der Migräniker eine solche ein.
Anlass genug also, um die gemeinsame S1-Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) und Deutschen Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft (DMKG) zur Migränebehandlung noch einmal unter die Leute zu bringen. Die Neurologen wünschen sich vor allem, dass Hausärzte sich in der Versorgung noch mehr einbringen und trauen. „Betablocker zur Prophylaxe, Amitriptylin zur Prophylaxe, Triptane für die Akuttherapie – das sind die Basics und das kann alles längst beim Hausarzt passieren“, so Pressesprecher Dr. Charly Gaul auf der DMKG-Pressekonferenz. Die Leitlinie wurde im Dezember aktualisiert – was hat sich seit der letzten Version getan?
Eine der wichtigsten Neuerungen betrifft die Akutmedikation von Migräneattacken. Zu den altbekannten NSAR/Analgetika und Triptanen gesellen sich zwei neue Medikamente, die im letzten Jahr die Zulassung erhalten haben und im Laufe dieses Jahres auch den Weg in die Apotheken finden dürften: Rimegepant und Lasmiditan.
Bei letzterem handelt es sich um den ersten Vertreter der Ditane – Serotonin-Rezeptoragonisten, die gezielt an den 5-HT1F-Rezeptor andocken. Dessen Aktivierung führt jedoch nicht zur Vasokonstriktion, welche eine maßgebliche Nebenwirkung der verwandten Triptane darstellt. Dementsprechend eignet sich Lasmiditan auch für Patienten mit einer bestehenden Gefäßerkrankung, bei denen Triptane kontraindiziert sind. Rimegepant hingegen ist ein CGRP-Rezeptorantagonist und ähnelt in seiner Wirkung den monoklonalen CGRP-Antikörpern.
Nicht jeder Patient spricht auf jedes Medikament gleich gut an, daher ist es erfreulich, dass der verfügbare Werkzeugkasten nun größer ist. „Wir haben das Glück, dass wir zwei völlig neue Substanzen mit zwei völlig neuen Wirkmechanismen haben“, so Gaul. „Wir hoffen, dass wir so dem Anteil der Betroffenen, die mit Triptanen oder Analgetika nicht gut zurechtkommen, jetzt noch einmal etwas wirklich Neues anbieten können.“
Die Therapie muss auf den Patienten zugeschnitten sein – das gilt auch bei der Migräneprophylaxe. Arzt und Patient sollen nach Ansicht der Experten gemeinsam entscheiden wann die Prophylaxe notwendig wird. „Natürlich ist eine hohe Attackenfrequenz ein Argument […], aber es kann auch der Leidensdruck sein, Einschränkung der Lebensqualität, schlechte Wirksamkeit der Akuttherapie, oder auch ein hoher Bedarf an Akuttherapie mit dem Risiko eines Medikamentenübergebrauchs“, erläutert DMKG-Präsident Dr. Tim Jürgens die möglichen Indikationen.
Auch eine weitere starre Grenze fällt mit der neuen Leitlinie, nämlich die bisherigen Praxis, eine medikamentöse Prophylaxe maximal 12 Monate durchzuführen. Nach neueren Empfehlungen sollte sich die Dauer einer vorbeugenden Therapie an der individuellen Schwere und Dauer der Erkrankung, sowie persönlichen Kontextfaktoren orientieren. Gerade bei Patienten mit einer hochfrequenten ( > 8 Migränetage pro Monat) oder chronischen Migräne, bei denen mitunter relevante Komorbiditäten und eine längere Anamnese vorliegen, braucht es länger als 6 Monate, bis sich Therapieeffekte zeigen und die Therapiedauer ist dementsprechend eher bei 12 bis 24 Monaten anzusetzen. „Da wäre es schon fahrlässig, immer im Rhythmus von 12 Monaten das Medikament wegzunehmen“, stellt DMKG-Vizepräsidentin Dr. Gudrun Goßram fest. Studiendaten zeigten, dass schwer betroffene Patienten durch die Therapiepause lediglich auf ihr altes Schmerzniveau zurückfielen, „und damit hat man sich dann viel Mühe und Therapiearbeit kaputtgemacht.“ Unabdingbar bleibt trotzdem die fortlaufende Kontrolle der Therapieeffektivität anhand eines sorgfältig geführten Kopfschmerztagebuchs.
Die Prophylaxe sollte aber keineswegs nur auf Medikamenten beruhen. „Wir sind als Experten alle davon überzeugt, dass die nicht-medikamentöse Therapie ein unverzichtbare zweite Säule einer jeden Migränetherapie ist, insbesondere, wenn wir über die prophylaktischen Maßnahmen sprechen“, betont Neurologin Dr. Stefanie Förderreuther. „Es ist tatsächlich so, dass das Zusammenwirken von einer medikamentösen Therapie und einer nicht-medikamentösen Therapie […] effektiver ist, als sich nur auf eine Tablette zu verlassen.“
Als wichtige Ansatzpunkte werden Triggermanagement und Lifestyleänderungen hervorgehoben. Insbesondere regelmäßiger Ausdauersport und Entspannungsverfahren wie die Muskelrelaxation kommen den Patienten zugute und könne die Attackenfrequenz merklich senken. „Das kann fast verglichen werden mit der Wirkung eines ß-Rezeptorenblockers“, so Förderreuther. Für besonders schwierige Fälle, in denen auch psychische Einflussfaktoren dazukommen, empfiehlt sich die kognitive Verhaltenstherapie um Stress und Attackenangst zu kontrollieren. „Gerade, wenn unimodale Therapieverfahren fehlschlagen, müssen wir diese Kombination anstreben.“
Neu im Werkzeugkasten ist die externe elektrische Stimulation des Nervus supraorbitalis zur vorbeugenden und akuten Behandlung. In einer randomisierten, kontrollierten Studie konnte sich die Prozedur gegenüber einer Scheinbehandlung durchsetzen. Während die Methode sich zwar für Patienten anbietet, die keine Medikamente einnehmen können oder wollen, muss allerdings beachtet werden, dass die Behandlungskosten nicht von der gesetzlichen Krankenkasse getragen werden.
Weiterhin beliebt und oft gewünscht bleibt die Akupunktur. Eine Cochrane-Metaanalyse kam zwar zu dem Schluss, dass insgesamt ein schwacher, positiver Effekt zu sehen ist; allerdings bleibt nach wie vor das große Problem einer heterogenen und widersprüchlichen Datenlage. Ein klare Abfuhr gibt es dahingegen für homöopathische Mittelchen und Nahrungsergänzungsmittel: „Das hilft nicht bei Migräne.“ Ebenso wird deutlich vor invasiver Neurostimulation sowie operativen Eingriffen wie der Corrugator-Chirurgie gewarnt, die Nebenwirkungen und bleibende Schäden nach sich ziehen können.
Die wichtigste Take-Home-Message ist wohl: Die Migräne ist behandelbar, die Therapieoptionen bewährt und vielfältig. „Bitte sagen Sie Ihren Patienten nie, ‚Sie müssen damit leben, da kann man halt nichts machen‘“, erinnert Förderreuther. Wichtig ist es, den für den Patienten individuell richtigen Weg zu finden. Und dabei liegt der Ball nicht nur im Spielfeld der Neurologen – vor allem Hausärzte sind gefragt. Auch wenn im Zweifelsfall natürlich weiterhin ein Schmerzspezialist zu Rate gezogen werden sollte, betonen alle anwesenden Experten: „Trauen Sie sich!“
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