Patienten, die an ihren Fingern knabbern und sich in die Wangen beißen – bis hin zur tiefgreifenden Selbstverstümmelung. Was kann so ein Verhalten auslösen? Lest hier mehr zum Lesh-Nyhan-Syndrom.
Zu viele Purine und damit Harnsäure können Gicht auslösen, das ist hinlänglich bekannt. Eine Störung im Purinstoffwechsel mit genetischer Disposition kann jedoch auch zum Lesh-Nyhan-Syndrom führen. Das am häufigsten beobachtete Verhalten ist Selbstverstümmelung durch Beißen von Lippen, Fingern und Wangen, was zu einer tiefgreifenden Entstellung führen kann. Die geschätzte Prävalenz des Lesch-Nyhan-Syndroms liegt zwischen 1:235.000 und 1:380.000. Das Syndrom ist aber nur sehr schlecht dokumentiert.
M. Lesch und W. Nyhan beschrieben in ihrem ursprünglichen Bericht über zwei betroffene Brüder die motorischen Anomalien als Spastik und Choreoathetose.
Das Lesch-Nyhan-Syndrom ist eine angeborene Erkrankung, die durch einen Mangel des Hypoxanthin-Guanin-Phosphoribosyltransferase-Enzyms (HPRT), einem Enzym des Purin-Salvage-Signalwegs, verursacht wird. Das Enzym ist für das Recycling von Purinen verantwortlich, indem es Guanin und Hypoxanthin in Guanosinmonophosphat (GTP) bzw. Inosinmonophosphat umwandelt. Ein Mangel des Enzyms führt zu einem Anstieg von Guanin und Hypoxanthin, die schließlich in Harnsäure umgewandelt werden. Die auftretende Hyperurikämie ist vermutlich nicht Auslöser der Symptome, sondern nur eine Begleiterkrankung.
GTP ist für die Aktivierung von Dopaminrezeptoren notwendig. Als wahrscheinlicher Mechanismus wird ein relativer GTP-Mangel bei HPRT-Mangel angenommen, der zu einer verringerten Dopaminrezeptoraktivierung führt. Regionen des Gehirns mit hoher Dopaminrezeptorkonzentration sind am stärksten betroffen, was zu den einschlägigen Symptomen führt.
Betroffene mit dieser Krankheit sind bei der Geburt asymptomatisch und weisen ein normales pränatales Wachstum und eine normale Entwicklung auf. Obwohl eine Hyperurikämie typischerweise bei der Geburt vorhanden ist, können sich die einzigen klinischen Anzeichen in neurologische Merkmale erst im Alter von 4 Monaten bemerkbar machen. Hypotonie und Entwicklungsverzögerung sind häufige frühe Anzeichen. Säuglinge können auch unspezifische Symptome wie etwa wiederkehrendes Erbrechen aufweisen. Extrapyramidale Anzeichen erscheinen dann erst im Alter von etwa 8–12 Monaten. Das häufigste extrapyramidale Zeichen ist die Dystonie. In den frühen Lebenstagen können orangefarbene Kristalle in den Windeln vorhanden sein.
Merkmale wie Dysarthrie, Dysphagie und Opisthotonus wurden ebenfalls häufig berichtet. Pyramidenzeichen wie Spastizität und Hyperreflexie können sich in den ersten Jahren entwickeln oder erst in späteren Jahren sichtbar werden. Dieses Verhalten beginnt normalerweise mit dem Durchbruch der Zähne bei Säuglingen.
Entgegen der Annahme, dass sich die Patienten aufgrund sensorischer Defizite weiter selbst verstümmeln, sind alle Empfindungen, einschließlich Schmerz, intakt. Berichte erwähnen auch zwanghaftes aggressives Verhalten, bei dem Patienten versuchen, anderen durch Kneifen, Spucken, Greifen, Schlagen oder verbalen Missbrauch Schaden zuzufügen.
In einer aktuellen Querschnittstudie von Isola wurden 19 Patienten mit Lesh-Nyhan-Syndrom untersucht. Nach Angaben der Eltern zeigten 16 der 19 in der Stichprobe eingeschlossenen Patienten irgendeine Form von selbstverletzendem Verhalten (84 %). Als erste Form der Selbstverstümmelung zeigte sich Fingerbeißen 7/19 (37 %), gefolgt von Lippenbeißen 5/19 (26 %) und Zungenbeißen 4/19 (21 %). Insgesamt 14 dieser 16 Patienten zeigten orales selbstverletzendes Verhalten (74 %).
Die Patienten sind sich bewusst, dass ihr Verhalten gegenüber sich selbst und anderen „falsch“ ist, sind aber im Allgemeinen nicht in der Lage, es zu kontrollieren; gelegentlich sind sie in der Lage, ihre Betreuer vor einem bevorstehenden Angriff zu warnen. Am häufigsten werden Läsionen an Lippen, Wangen, Zunge und Zahnfleisch sowie Bisse an anderen Körperteilen und Selbstextraktion von Zähnen beobachtet. Das Syndrom wurde im mittleren Alter von 4,7 Jahren (±3,0) diagnostiziert, oft bei der Geburt eines zweiten Kindes, das von demselben Syndrom betroffen war.
Selbstverletzungsverhalten bei Lesch-Nyhan-Patienten stellt ein schwerwiegendes Therapieproblem dar, dem sich sowohl Eltern als auch Zahnärzte stellen müssen. „Die gemeldete Inzidenz von selbstverletzendem Verhalten beträgt 74 % und führte in 86 % der Fälle zu dauerhaften Schäden“, so die Autoren der Studie.
Obwohl das selbstverletzende Verhalten das imponierende Symptom ist, muss auch die Harnsäure gesenkt werden. Allopurinol – ein Medikament, das die Umwandlung von Hypoxanthin und Xanthin in Harnsäure blockiert, indem es das Enzym Xanthinoxidase hemmt – ist eine bedeutende Option in der Behandlung von Hyperurikämie. Eine Verringerung der Harnsäureüberproduktion reduziert die Komplikationen von Urolithiasis, Nephrolithiasis, Tophi und Gichtarthritis. Da eine Hyperurikämie von Geburt an besteht, gilt: Je früher mit der Medikation begonnen wird, desto besser ist die Prävention von Komplikationen. Die Behandlung mit Allopurinol hat jedoch keine Auswirkungen auf die neurologische Entwicklung und die kognitiven Ergebnisse. Außerdem kann sie in seltenen Fällen ein Arzneimittelüberempfindlichkeitssyndrom, Stevens-Johnson-Syndrom und toxische epidermale Nekrolyse verursachen.
Febuxostat, ein neuartiger, strukturell nicht verwandter, nicht purinselektiver Xanthinoxidase-Hemmer, wäre eine potenzielle Alternative zu Allopurinol für Patienten mit Hyperurikämie und Gicht. Febuxostat wirkt sowohl auf die oxidierte als auch auf die reduzierte Form der Xanthinoxidase, da es die Enzymaktivität hemmt, indem es das aktive Zentrum des Enzyms nicht kompetitiv blockiert. Anders als Allopurinol hemmt Febuxostat aber keine Enzyme, die am Purin- oder Pyrimidinstoffwechsel beteiligt sind.
Aufgrund der Struktur- und Selektivitätsunterschiede hat Febuxostat tendenziell eine höhere Wirksamkeit und langanhaltende Wirkung. Das Medikament wird zwar nicht routinemäßig bei Patienten mit HGprt-Mangel angewendet, kann aber bei Patienten angewendet werden, die Allopurinol nicht vertragen. Beide Arzneimittel werden meist off-label angewendet, da die Diagnose der Gicht einen Gichtanfall oder Tophi voraussetzt.
Patienten mit Lesch-Nyhan-Syndrom haben eine kürzere Lebensdauer und überleben selten bis in die 30er Jahre. Nierenversagen ist eine schwerwiegende Komplikation, aber eine frühzeitige Diagnose und sofortige Behandlung mit Allopurinol oder Febuxostat haben dies zu einer seltenen Todesursache gemacht. Die häufigsten Todesursachen sind daher mittlerweile Atemstillstand und Infektionen wie beispielsweise Lungenentzündung.
Das derzeitige Fehlen standardisierter Behandlungsprotokolle für orale Selbstverletzung bedeutet, dass die Therapie individualisiert werden muss. Die erste anzuwendende Methode sollte eine nicht-chirurgische Schiene oder ein Mundschutz sein. Um Zunge und Kaumuskulatur zu hemmen, werden aber auch Injektionen von Botulinumtoxin eingesetzt.
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