Durchfall, Krämpfe und Blähungen – Reizdarm oder doch nicht? Lest hier, wie ihr das Reizdarmsyndrom von Zöliakie, entzündlichen Darmerkrankungen und kolorektalem Karzinom unterscheidet.
Wohl kaum eine gastrointestinale Erkrankung bekommt so viel mediale Aufmerksamkeit wie das Reizdarmsyndrom. Über 1 Million Menschen in Deutschland kriegten 2017 laut des BARMER-Arztreports die Diagnose gestellt. Experten gehen sogar von weitaus mehr Betroffenen aus. Für viele dauert es aber meist Jahre bis zu einer Diagnose. Prof. Wolfgang Holtmeier erklärt, dass Patienten, die frühzeitig zum Arzt gehen und die entsprechende Differentialdiagnostik erhalten, auch früh eine Diagnose bekommen würden. „Es ist eine Frage des Zuganges dieser Patienten zur entsprechenden Diagnostik“. Er ist Chefarzt der Klinik für Gastroenterologie am Krankenhaus Porz am Rhein in Köln, und hielt auf der aktuellen DocCheck CME-Veranstaltung einen Vortrag zu aktuellen Ernährungsansätzen bei Reizdarm und abdominellen Beschwerden.
Unter die gastrointestinalen Beschwerden des Reizdarmsyndroms fällt ein ganzes Sammelsurium an Symptomen, die nicht zwangsläufig auf die Diagnose Reizdarm hindeuten – denn sie können viele Ursachen haben.
Gastro-intestinale Beschwerden bei Reizdarmsyndrom.
Im Jahr 2021 erschienen drei verschiedene Leitlinien, die dem Thema gewidmet sind: S3-Leitlinie Reizdarmsyndrom, S3-Leitlinie Intestinale Motilitätsstörungen und die S2k-Letilinie Chronische Obstipation. In diesen Leitlinien gibt es einige Überlappungen zur Behandlung, aber auch unterschiedliche Empfehlungen. Holtmeier merkt dazu an, dass Leitlinien nicht immer eindeutig seien und es sich dabei nicht um Richtlinien handle, sondern um Empfehlungen. Man müsse verstehen, wie sie entstehen, um entsprechend zu handeln. Zunächst einmal ist es hilfreich, sich zu vergegenwärtigen, wann das Reizdarmsyndrom diagnostiziert werden kann. Laut der S3-Leitlinie liegt das nämlich vor, wenn folgende drei Punkte erfüllt sind:
Anders als in den US-amerikanischen Rome IV Kriterien gibt es hierbei keine Beschreibung spezifischer Symptome oder Unterscheidungen im Verstopfungstyp. Dennoch beziehen sich auch unsere Leitlinien auf diese Kriterien. Um beispielsweise zwischen obstipation-prädominanten und diarrhoe-prädominanten Reizdarmsyndrom zu unterscheiden, kann die Bristol Stuhlformen Skala verwendet werden. Damit können Form und Konsistenz des Stuhls des Patienten beurteilt werden.
Reizdarm sei laut Holtmeier in vielen Fällen eine Verlegenheitsdiagnose. Es handele sich dabei um viele Symptome, die aber keine Diagnose zulassen. Beispielsweise überschneiden sich die initialen Beschwerden eines kolorektalen oder Ovarialkarzinoms, einer chronisch entzündlichen Darmerkrankung, einer mikroskopischen Kolitis oder einer Zöliakie mit den Symptomen des Reizdarmsyndroms – diese Erkrankungen dürfen bei der Differentialdiagnose aber nicht übersehen werden.
Häufig komme es zu Fehldiagnosen, weil übersehen werde, dass Lebensmittel eine bedeutende Rolle bei der Symptomatik spielen, so Holtmeier. Insbesondere Nahrungsmittelunverträglichkeiten wie Allergien, Weizenunverträglichkeit oder etwa die Kohlenhydratmalabsorption, aber auch das Gallensäureverlustsyndrom können ausschlaggebende Faktoren für die gastro-intestinalen Beschwerden sein. Letzteres hat nicht direkt etwas mit der Ernährung zu tun, aber man denkt häufig nicht daran, erklärt Holtmeier. Dabei kommt es zu einer gestörten Resorption der Gallensäure im terminalen Illeum, wodurch diese im Dickdarm landet und die Schleimhäute angreift – es kommt zur sekretorischen oder chologenen Diarrhoe. Häufig wird dieses Syndrom auch durch eine chronisch entzündliche Darmerkrankung, Gallenblasen-Operation oder bakterielle Übersiedlung ausgelöst.
Erst wenn diese Nahrungsmittelunverträglichkeiten oder auch das Gallensäuresyndrom sauber und diagnostisch ausgeschlossen werden, könne man dem Gastroenterologen zufolge die Diagnose Reizdarmsyndrom stellen. Allem voran steht natürlich eine ausführliche Anamnese; im nächsten Schritt dann die körperliche und rektale Untersuchung.
Wenn es da schon Auffälligkeiten gibt, handelt es nicht um das Reizdarmsyndrom. Gibt es keine Auffälligkeiten, sollte man zu ausführlichen labordiagnostischen Untersuchungen greifen. Blut und Stuhl – inklusive Zöliakie-Antikörper und Calprotectin – sollten getestet werden. Liegt kein anderweitiges Risiko vor, könnte man jetzt nach den Leitlinien mit der Diagnostik aufhören. Wenn es sich um einen jungen Patienten handelt, bei dem nichts Auffälliges gefunden wird, keine wässrige Diarrhö auftritt und auch keine familiäre Vorbelastung vorliegt, würde man die Diagnose Reizdarm stellen, erklärt der Mediziner.
Diagnostisches Vorgehen bei V. a. Reizdarmsyndrom. Credit: S3-Leitlinie Reizdarmsyndrom (2021)
Holtmeier merkt aber an: Wenn doch ein Risiko für ein Karzinom vorliegt, sollte nicht nur eine Darmspieglung, sondern auch eine Magenspieglung durchgeführt werden. Er weist zudem darauf hin, dass das Alter dabei nicht immer eine Rolle spielt und auch bei jungen Patienten mit Reizdarm-typischer Symptomatik ein Karzinom vorliegen kann. „Jeder, der über einen längeren Zeitraum über diese Magen-Darm-Beschwerden klagt, sollte eine Magen-Darm-Spiegelung bekommen.“ Wenn diese unauffällig sei, könne man dann auch den Reizdarmtyp bestimmen, ergänzt der Mediziner.
In der aktualisierten Leitlinie von 2021 wurde die Abklärung von Nahrungsmittelunverträglichkeit mit aufgenommen. Wenn die Anamnese zeigt, dass die Beschwerden auf bestimmte Nahrungsmittel zurückgehen, sollte ein Ernährungstagebuch geführt werden und versucht werden, die Auslöser wegzulassen oder eine Eliminationsdiät durchzuführen. Beispielsweise wird in den Leitlinien eine Kohortenstudie aufgeführt, die bei über 90 % der Reizdarmsyndrom-Patienten eine Kohlenhydratmalassimilation erfasste. Bei der Mehrzahl dieser Patienten kam es unter einer Ernährung, die auf die malabsorbierten Zucker Rücksicht nahm, zu einer deutlichen Verbesserung der Symptomatik. Letztendlich sei das am Ende des Tages dann aber kein Reizdarm, erklärt Holtmeier.
Zu den nicht resorbierten Kohlenhydraten zählen unter anderem Laktose, Fruktose, Sorbit, und Lactulose (generell FODMAPs), die bei einer Kohlenhydratmalabsorption im Dünndarm nicht ausreichend aufgeschlossen werden und in den Dickdarm gelangen. Dort kommt es durch das Darmmikrobiom zur Fermentation der Kohlenhydrate und einem Wassereinstrom, sodass es zu Durchfall, Blähungen und Verstopfungen kommen kann.
FODMAP steht für Fermentable oligo-, di-, monosaccharides and polyols, die man in vier Gruppen einteilen kann: Laktose, Fruktose, Fruktane und Galactane sowie Polyole. Diese Bestandteilen stecken in vielen Nahrungsmitteln – von Milchprodukten über Obst und Gemüse bis hin zu Getreide. „Wenn man das alles weglässt, bleibt nicht viel zum Essen“, sagt Holtmeier. Er weist in diesem Zusammenhang auch darauf hin, dass es nicht immer gut ist, komplett auf etwas zu verzichten. Das könne wiederum zur völligen Unverträglichkeit führen. Um eine Low-FODMAP-Diät durchzuführen, sollte man am besten zur Ernährungsberatung, erklärt der Mediziner. Es gebe nämlich kaum Patienten, die alle FODMAPs nicht vertragen – man müsse also austesten, was man essen kann und was nicht.
Beispielsweise leiden viele Reizdarmpatienten an einer Weizensensitivität, obwohl eine Zöliakie und Weizenallergie sicher ausgeschlossen wurde – dabei handele es sich auch nur um eine Kohlenhydrat-Malabsorption, erklärt der Mediziner. In einem solchen Fall müsste man laut Leitlinien also versuchen, eine befristete weizen-/glutenfreie Diät mit anschließender gezielter Re-Exposition zur Prüfung einer zugrundeliegenden Nicht-Zöliakie-Nicht-Weizenallergie-Weizen-/Gluten-Sensitivität (NCGS/NCWS) durchzuführen. Bei dem Zungenbrecher handelt es sich lediglich um eine Sensitivität gegenüber Weizen und/oder Gluten, der weder Zöliakie oder eine Weizenallergie zugrunde liegt.
Reagiert der Körper nun mit Verdauungsstörungen auf die Aufnahme von weizen- oder glutenhaltigen Lebensmitteln, können diese in der Ernährung erst einmal reduziert werden, bis sie Stück für Stück wieder auf dem Speiseplan eingeführt werden, um eine Toleranzschwelle zu ermitteln. So soll langfristig eine individuelle Ernährungsweise etabliert werden, die unverträgliche Lebensmittel vermeidet.
Holtmeier betont aber in diesem Rahmen auch, dass Patienten, die langfristig auf eine Weizen- oder FODMAP-arme Diät ansprechen, keinen Reizdarm haben, sondern eine Kohlenhydrat-Malassimilation. Bislang fehlen spezifische Marker zur Diagnosestellung, ob bestimmte Unverträglichkeiten vorliegen. Bei Laktose- oder Fruktose-Unverträglichkeit ist das anders, da in solchen Fällen etwa ein H2-Atemtest durchgeführt werden kann.
Holtmeier weist auch darauf hin, dass Weizen häufig öffentlich sehr verteufelt wird und Menschen selbst ohne vorliegende Beschwerden darauf verzichten. Er habe Patienten erlebt, die dadurch gar nichts mehr vertragen oder zumindest meinen, sie vertragen nichts mehr. „Essen ist für viele Menschen zur Religion geworden.“ Diese Patienten seien anorektisch gewesen und wiesen psychosomatische Beschwerden auf, weil sie nichts mehr vertragen würden. Das sei auch eine Gefahr, die man bei diesen Ernährungsansätzen sowie gastrointestinalen Beschwerden im Hinterkopf haben sollte.
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Bildquelle: Emily Morter, unsplash