Geschlechtsdysphorie wird häufiger. Ein modernes Selbstbestimmungsrecht soll Patienten schon ab einem Alter von 14 Jahren dabei helfen, ihr Geschlecht zu ändern. Ist das eine Chance – oder eine Gefahr?
In kaum einem anderen Bereich der Medizin, aber auch im gesellschaftlichen Fokus, hat ein Thema so an Aufmerksamkeit gewonnen, wie Irritationen bei der Geschlechtsidentität. Menschen, die sich nicht mit dem bei Geburt zugewiesenen Geschlecht identifizieren, stehen unter einem Leidensdruck, der Lebensqualität und Gesundheit nachhaltig beeinträchtigt. Ärzte in der Pädiatrie, Gynäkologie und Allgemeinmedizin sind oft die ersten Ansprechpartner, wenn derartige Probleme auftreten. Viele fragen sich, warum das Thema so an Brisanz gewonnen hat.
Die meisten Betroffenen halten an dem binären Konzept fest und streben entweder eine Transition von männlich zu weiblich an (Transfrau), oder von weiblich zu männlich (Transmann). Während der Adoleszenz dominiert mit Abstand letztere Gruppe: Zu 80 % handelt es sich um Kinder und Jugendliche, denen bei ihrer Geburt ein weibliches Geschlecht zugeordnet wurde, die sich aber dem männlichen Geschlecht zugehörig fühlen. Einer US-Studie zufolge hat sich die Anzahl der Mastektomien, die zur Geschlechtsanpassung zwischen dem 12. und 17. Lebensjahr vorgenommen wurden, in der Zeitspanne von 2013 bis 2020 um den Faktor 13 erhöht. In vielen europäischen und angloamerikanischen Ländern liegt der Prävalenzanstieg bei den Transgenderidentitäten seit dem Jahr 2000 bei mehr als 1.000 %.
Ursächlich diskutiert werden zwei Phänomene: Der gesellschaftliche Umgang mit einer Tatsache, die schon immer bestand, ist offener geworden. Dadurch outen sich mehr Betroffene und nehmen Hilfe in Anspruch. Andere sehen in dem hohen Prävalenzanstieg ein vor allem durch soziale Medien getriggertes Phänomen. Das hat den Begriff der Rapid-Onset Gender Dysphoria (ROGD) hervorgebracht. Ursächlich wird hier eher eine sozial getriggerte Komponente gesehen. Der Begriff ist umstritten und wird sehr kontrovers diskutiert.
Die pubertäre Entwicklung kann pharmakologisch mit GnRH-Analoga geblockt werden. Dies führt zu einer Veränderung hormoneller, neuronaler, mentaler und psychischer Entwicklungskaskaden, wie sie für die Pubertät typisch sind. Die Ausbildung sekundärer Geschlechtsmerkmale wird gebremst und geschlechtsangleichende Therapien lassen sich später einfacher durchzuführen. Im Anschluss erfolgt als zweiter Schritt die Gabe des gegengeschlechtlichen Hormons: Östrogen oder Testosteron. In einem dritten Schritt kann der Körper operativ angepasst werden, im Sinne einer Penis- und Hodenamputation, Neovagina und Brustaugmentation bzw. einer Penoidbildung und Mastektomie neben Hysterektomie und Adnexektomie.
GnRH-Analoga verzögern die Knochendichtezunahme in der kritischen Wachstumsphase. Um die Knochengesundheit zu fördern, müssen ausreichende Calcium- und Vitamin-D-Supplementierungen sowie Sport empfohlen werden. GnRH-Analoga und nachfolgende Hormongaben können metabolische Folgeerscheinungen, wie signifikante Gewichtszunahme bei Transfrauen und ein höheres Typ-2-Diabetes-Risiko bei Transmännern, hervorrufen. Bei einer Hormongabe sind die üblichen Kontraindikationen und Risiken, wie thromboembolische Ereignisse oder Karzinogenese, zu beachten.
„Die Bundesregierung empfiehlt nicht die Einnahme von Pubertätsblockern. Die Entscheidung über die Verschreibung von Pubertätsblockern liegt ausschließlich im Ermessen der behandelnden Fachärztinnen und -ärzte. Sie informieren auch über Risiken und Nebenwirkungen. Die körperliche und seelische Gesundheit der Kinder und Jugendlichen muss dabei im Mittelpunkt der Behandlung stehen“, so eine Meldung des Bundesministeriums für Familie und Jugend im Oktober 2022. Für die geschlechtsangleichenden chirurgischen Verfahren gelten demnach die allgemeinen Operations- und Narkoserisiken. Der mögliche Verlust der reproduktiven Fähigkeit und sexuelle Funktionseinschränkungen, wie Anorgasmie, können die psychische Gesundheit negativ beeinflussen.
Die Zahl von Betroffenen, die eine Detransition – also die Rückkehr von der Angleichung – fordern, scheint zu steigen. Mögliche Schäden und irreversible Folgen haben mittlerweile zu einer Überprüfung des medizinischen Handelns geführt. Immer mehr Experten betonen daher, dass die Erstlinientherapie eine psychologische und psychiatrische sein müsse. Die Einsichtsfähigkeit von Kindern und Jugendlichen in eine solch komplexes Therapieregime mit all seinen Folgen ist Gegenstand kontroverser Diskussionen um den Zeitpunkt des Therapiebeginns. Experten wie Dr. Alexander Korte, leitender Oberarzt der Kinder- und Jugendpsychiatrie an der LMU München, warnen vor einer zu schnellen und teils irreversiblen Therapie. Oftmals kristallisiere sich später eine verdrängte Homosexualität heraus, bei der eine frühzeitige pubertätsblockierende Intervention fatale Folgen hätte. „Wir können Betroffenen helfen, ihre Homosexualität zu erkennen, zuzulassen und ein selbstbestimmtes, auch sexuell erfülltes Leben zu führen“, so Korte.
Vor 30 Jahren wurden in Zentren in Amsterdam, Los Angeles, Chicago und San Francisco Modelle zur Unterstützung der Transition von Kindern und Jugendlichen entwickelt. Darin beinhaltet ist auch die frühe Gabe von Pubertätsblockern ab 12 Jahren, teilweise bereits ab 10 Jahren. Gegengeschlechtliche Hormone können ab 16 Jahren verabreicht werden, irreversible chirurgische Angleichungsoperationen sind ab 18 Jahren möglich. Die World Professional Association for Transgender Health (WPATH) hat für eine Herabsetzung des Alters bei der gegengeschlechtlichen Hormontherapie von 16 auf 14 Jahre plädiert. Mit 15 Jahren solle die Mastektomie, mit 17 Jahren eine Hodenentfernung möglich sein. Viele Länder haben sich zunächst an diesen Vorgaben orientiert, momentan führt der Weg eher in die andere Richtung.
Das Swedish National Board of Health and Welfare (NBHW) hat Anfang 2022 veröffentlicht, dass bei einer Hormongabe zur Therapie einer Genderdysphorie die Nachteile überwiegen. Deshalb wurde das Mindestalter außerhalb von Studien auf 18 Jahren festgesetzt. Ebenfalls im vergangenen Jahr hat sich die Ärzteorganisation in Florida entschieden, dass Pubertätsblocker, Hormone und angleichende Operationen erst ab 18 Jahren möglich sein sollen. Auch in anderen US-Staaten gibt es mittlerweile ähnliche Initiativen. Finnland hat bereits 2020 Pubertätsblocker stark limitiert, auch die Ärzteakademie Frankreichs, wo bisher die Mastektomie ab 14 Jahren erlaubt ist, rät zu mehr Vorsicht bei geschlechtsangleichenden Therapien.
In Deutschland beinhalten die Schritte auf dem Weg zum anderen Geschlecht eine Kaskade aus Selbstfindung, Information, Gutachten, Kostenübernahmeanträge, Hormontherapie und Operation.
Das deutsche Transsexuellengesetz (TSG) wurde 1980, unter dem Titel Gesetz über die Änderung der Vornamen und die Feststellung der Geschlechtszugehörigkeit in besonderen Fällen verabschiedet. Hier geht es um formale Dinge und es regelt nicht die medizinische Behandlung. Gefordert werden zwei voneinander unabhängige psychologische oder psychiatrische Gutachten, aus denen klar hervorgeht, dass bei der betreffenden Person eine Transsexualität vorliegt. Die Kosten der Gutachten trägt die betroffene Person. Weiterhin muss die neue Geschlechtsrolle gelebt werden (Alltagstest). Sind alle Voraussetzungen erfüllt, übernehmen die gesetzlichen Krankenkassen die Therapie.
Die Aufhebung des TSG zugunsten eines sogenannten Selbstbestimmungsgesetzes wird für die zweite Jahreshälfte 2023 von der Bundesregierung erwartet. Die Änderung des Personenstandes im Personenstandsregister ist dann zukünftig ohne Gutachten möglich.
Das geplante Selbstbestimmungsrecht spiegelt eine moderne, offene Gesellschaft wider, in der Diskriminierung keinen Raum hat. Menschen, die unter der ihnen bei Geburt zugeordneten Geschlechterrolle leiden, soll adäquat und unkomplizierter geholfen werden. Damit könne nicht früh genug begonnen werden, um irreversiblen psychischen Traumata vorzubeugen und geschlechtsangleichenden Therapien zu vereinfachen, so die Befürworter.
Experten, insbesondere aus der Kinder- und Jugendpsychiatrie, sehen ein so früh einsetzendes Selbstbestimmungsrecht unter Wegfall psychologischer Gutachten kritisch. Gerade die Pubertät gilt als einer der sensibelsten und vulnerabelsten Lebensabschnitte, in dem auch die Frage nach der Geschlechtsidentität Grauzonen durchläuft. Eine übereilte Therapie könne mehr Schaden als Nutzen bringen. Es bleibt nun Aufgabe der Politik, eine Entscheidung nach bestem Wissen und mit Hilfe von Befürwortern und Kritikern zu fällen.
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