Nobel-gepriesen, aber bisher nicht auf dem Markt etabliert. Die RNA-Interferenz hat das Zeug, bei vielen Krankheiten auch Ziele anzugreifen, die bisher als „undruggable“ galten. Die Karriere der Technik ähnelt einer Achterbahnfahrt. Letzte Richtung: steil bergauf.
Gefunden und mit großen Hoffnungen gestartet, ein paar Jahre später abgeschrieben und ganz hinten in die Innovations-Schublade gesteckt – und nun plötzlich ganz aktuell: RNA-Interferenz könnte eines der Mittel sein, eine weitere Ausbreitung der Ebola-Epidemie aufzuhalten. Die amerikanische Gesundheitsbehörde FDA jedenfalls gab dem Hersteller Tekmira grünes Licht für die Erprobung (DocCheck berichtete). 1998 entdeckt und aufgeklärt, erschien der Mechanismus der Inaktivierung von RNA-Botschaften in der Zelle bereits acht Jahre danach einigen Herren in Stockholm bedeutend genug, um Craig Mello und Andrew Fire dafür mit dem Nobelpreis zu ehren. Ein knappes Jahrzehnt später sucht man am Arzneimittelmarkt jedoch immer noch weitgehend vergeblich nach den so erfolgreichen Substanzen, die ihre Ziel-Gene wirkungsvoll stilllegen. Das gilt nicht nur für die doppelsträngigen interferierenden RNA (siRNA), sondern auch für eine weitere Technik, unerwünschte Transkriptionsprodukte auszuschalten, den Block der mRNA durch Antisense-Oligonukleotide.
Wahrscheinlich dient das natürlich vorkommende Prinzip der RNA-Interferenz der Abwehr der Zellen vor Viren; deren zuweilen doppelsträngige RNA wäre für die Zelle dann das Signal, ihre mRNA-Produktion einzustellen und damit die weitere Vermehrung des Eindringlings zu unterbinden. Im RISC Komplex (RNA induced silencing complex) wirken siRNA und mehrere Proteine zusammen und sorgen für eine Zerstückelung der transkribierten mRNA in den nächsten Schritten. Nach der anfänglichen Euphorie mit etlichen präklinischen Erfolgen stellten sich bei der Erprobung an höheren Lebewesen jedoch bald sehr viel mehr Probleme als erwartet ein und dämpften die großen Hoffnungen der Arzneimittelentwickler. Denn nur ein Teil der Patienten verminderte die Zielprotein-Produktion. Und wenn es tatsächlich gelang, die gewünschte Genaktivität zu unterdrücken, dann korrelierte das nicht mit dem gewünschten therapeutischen Erfolg.
Eines der größten Problem scheint ein geeignetes „Delivery-System“ zu sein, ein Transportvehikel, das die Doppelstrang-RNA direkt ins Ziel bringt. Um nicht schnell aus dem Blutkreislauf über die Nieren ausgeschieden zu werden, braucht der Komplex eine bestimmte Größe von rund 50 bis 200 nm. Damit geht das Molekül aber auch nicht ganz einfach durch die Zellwand ins Zytoplasma, wo es seinen Dienst verrichten soll. Die vielversprechendste Lösung haben die Forscher dabei gefunden, indem sie die RNA in eine Lipidhülle verpackten und schließlich noch mit einem Koppelglied für einen membranständigen Zellrezeptor versahen. Einen Erfolg mit dieser Richtung publizierte der RNAi-Spezialist Alnylam 2013 im New England Journal. siRNA, verpackt in solche Lipid-Nanopartikel, unterdrückten bei Patienten mit der seltenen Krankheit Transthyretin-Amyloidose die Expression der fehlerhaften – aber auch der korrekten Transthyretin-Proteine. Rund 0,2 mg /kg des Wirkstoffs reduzierten den entsprechenden Spiegel um mehr als 80 Prozent und selbst nach einem Monat noch um rund 60 Prozent.
Aber auch bei nicht so seltenen Leiden gibt es für die RNA-Interferenz mehr als einen Schimmer am Horizont. Ein lohnendes Ziel im Fettstoffwechsel scheint PCSK9 zu sein, eine Serinprotease, die häufig an der Entstehung von Hypercholesterinämien beteiligt ist. Vor etwa einem Jahr stellte wiederum Alnylam eine Phase I-Studie im „Lancet“ vor, in der eine entsprechende siRNA die Enzymkonzentration im Kreislauf um 70 Prozent erniedrigte und damit im weiteren den LDL-Cholesterinspiegel um rund 40 Prozent reduzierte. Neben der Leber, wo die verpackte siRNA einen Zugang zu den entsprechenden Zellen und den Zielmolekülen leichter als in den meisten anderen Organen findet, ist die RNA-Therapie auch für Ophtalmologen interessant. Hier können die Wissenschaftler den Wirkstoff direkt in sein Ziel absetzen. Wer in der Studiendatenbank „Clinicaltrials.gov“ nachschlägt, findet dort etwa eine Studie der spanischen Firma Sylentis, die mit ihrer Substanz die Behandlung von Glaukomen erprobt. Um auch andere Organe effektiver zu erreichen und die RNA auch in niedriger Konzentration direkt an ihr Ziel zu führen, arbeiten die Wissenschaftler an neuen Verpackungen und Modifikationen. Indem sie N-Acetyl-Galactosamin daran koppelten, erreichten Experten von Alnylam eine bereits etablierte RNA-Interferenz mit wesentlich geringeren Dosen. Der Baustein von Glycolipiden und -proteinen der Zellmembran macht es auch möglich, den Wirkstoff nicht nur intravenös, sondern auch subkutan zu verabreichen und mit der RNA-Interferenz weitere Stoffwechselkrankheiten zu erschließen. Entsprechende Verpackung soll auch bei Tumorerkrankungen für Erfolge sorgen.
Sie hat ähnliche Ziele, geht aber einen andren Weg: Einzelsträngige Antisense-RNA oder -DNA bindet direkt an den komplementären mRNA-Partner und verhindert damit, dass aus ihm ein Protein wird. Die Erfolgsbilanz von ,Antisense‘ liest sich ähnlich wie die der RNA-Interferenz: 1998 wurde zwar ein erstens Antisense-Präparat gegen CMV-Infektionen zugelassen, dessen Karriere dauerte aber nur wenige Jahre. Erst 2013 schaffte es zweites Präparat auf den Markt: Mipomersen gegen familiäre Hypercholesterinämie gehört zu den stärksten bekannten Cholesterinsenkern. Die komplementäre Oligonukleotid blockiert die Synthese von Alipoprotein B, Baustein des LDL-Cholesterin. Während die amerikanische Gesundheitsbehörde FDA ihr „ok“ erteilte, wiesen die Kollegen in Europa das Mittel aufgrund beträchtlicher Nebenwirkungen zurück. Zahlreiche Antisense-Produkte mit ganz unterschiedlichen Zielmolekülen befinden sich in der Spätphase klinischer Prüfungen. Neben Fettstoffwechselstörungen sind das Prostata- und Lungenkarzinome, gegen die Custirsen, helfen soll. Es inhibiert in Tumorzellen Clusterin, ein Stressprotein, mit dem sich die Tumorzelle gegen hemmende Medikamente wehrt. Drisapersen zur Behandlung von Duchenne‘scher Muskeldystrophie, greift in die Prozessierung pathologischer Dystophin-Botschaften ein. Ein verwandter Wirkstoff (ISIS-SMN) soll auf ähnliche Weise die spinale Muskelatrophie lindern und wird direkt in den Liquorkanal eingebracht. Schließlich entwickeln die Firmen Antisense-Therapeutics und Isis Pharmaceuticals zusammen einen Wirkstoff gegen Entzündungsschübe bei Multipler Sklerose. Das Antisense-Molekül interagiert dabei mit dem Transkriptionsprodukt für VLA-4. Dieses Integrin-Zelloberflächenprotein sitzt auf T-Zellen und gewährt ihnen bei MS den normalerweise versperrten Zugang ins Gehirn.
Lange Zeit war es bei der Entwicklung von RNA-Therapeutika sehr still. Nach einer anfänglichen Euphorie für die Technik der RNA-Interferenz entschloss sich Roche vor vier Jahren, auf diesem Gebiet ganz auszusteigen, obwohl die Firma zuvor dort rund 500 Millionen Dollar investiert hatte. Nur wenige Wochen später verordnete sich Pfizer ebenfalls einen Forschungsstopp. Erst nachdem kleinere Biotech-Firmen mit guten präklinischen Daten und ersten kleineren Phase-I-Studien wieder Hoffnungen geweckt hatten, machten auch die Großen erneut kehrt. Roche arbeitet seit diesem Jahr mit dem RNA-Spezialisten Santaris zusammen und die Sanofi-Tochter Genzyme erwarb für 700 Millionen Dollar eine 12-Prozent-Beteiligung an Alnylam. Immer noch schwärmen Wissenschaftler über die Möglichkeiten, mit den beiden Techniken auch Ziele zu erreichen, die bisher als „undruggable“, also pharmazeutisch nicht angreifbar galten. Ohne Schutz vor RNasen und ohne Transport-Hilfsmittel an den Bestimmungsort und in die Zelle hinein schafften es jedoch nur wenige Reagenzien, tatsächlich die erwartete Wirkung zu erzielen. Mit der Entwicklung einer RNA-Logistik mit spezialisierten Transportern könnte jedoch aus dem Lichtschein am Horizont ein kräftiger medizinischer Sonnenstrahl werden.