Die Hypoglykämie ist ein bedeutender Risikofaktor für die diabetische Retinopathie. Forscher entschlüsselten nun den genauen Mechanismus hinter diesem Phänomen.
Bei Diabetikern, die unter Hypoglykämie leiden, ist bekanntlich die Wahrscheinlichkeit größer, dass sich die diabetische Augenerkrankung verschlimmert. Jetzt haben Forscher der Johns Hopkins University einen Zusammenhang zwischen solchen niedrigen Blutzuckerwerten und einem molekularen Signalweg hergestellt, der in sauerstoffarmen Zellen im Auge aktiviert wird.
Die Forschungsarbeit an humanen und murinen Augenzellen sowie intakten Netzhäuten, die im Labor in einer Umgebung mit niedrigem Blutzuckerspiegel gezüchtet wurden, wurde in Cell Reports veröffentlicht.
„Vorübergehende Episoden der Unterzuckerung kommen bei Menschen mit insulinabhängigem Diabetes ein- oder zweimal am Tag vor, häufig auch bei Menschen, bei denen die Krankheit neu diagnostiziert wurde“, sagt Dr. Akrit Sodhi, Professor für Augenheilkunde am Wilmer Eye Institute der Johns Hopkins Medicine. Niedrige Glukosespiegel können auch bei Menschen mit nicht insulinabhängigem Diabetes im Schlaf auftreten. „Unsere Ergebnisse zeigen, dass diese periodisch auftretenden niedrigen Glukosespiegel einen Anstieg bestimmter Proteine in den Netzhautzellen verursachen, was zu einer Überwucherung der Blutgefäße führt und die diabetische Augenerkrankung verschlimmert“, fügt Sodhi hinzu.
Die diabetische Retinopathie, die bei bis zu einem Drittel der Diabetiker auftritt, ist durch das Überwachsen abnormaler Blutgefäße in der Netzhaut gekennzeichnet. Sodhi zufolge deutet die aktuelle Studie darauf hin, dass Menschen mit diabetischer Retinopathie besonders anfällig für Perioden mit niedrigem Blutzuckerspiegel sind und dass die Aufrechterhaltung eines stabilen Blutzuckerspiegels ein wichtiger Bestandteil der Blutzuckerkontrolle sein sollte.
Für die Studie analysierten die Forscher die Proteinkonzentrationen in menschlichen und Mäuse-Netzhautzellen und intakten Netzhäuten, die in einer Umgebung mit niedrigem Blutzucker im Labor gezüchtet wurden, sowie in Mäusen, die gelegentlich einen niedrigen Blutzucker hatten. Die Forscher fanden heraus, dass ein niedriger Blutzuckerspiegel in Netzhautzellen von Menschen und Mäusen eine Kaskade von molekularen Veränderungen auslöst, die zu der Überwucherung der Blutgefäße führen können.
Zunächst stellten die Forscher fest, dass ein niedriger Blutzuckerspiegel die Fähigkeit der Netzhautzellen, Glukose zur Energiegewinnung abzubauen, beeinträchtigt. Als die Forscher speziell die so genannten Müller-Gliazellen untersuchten, die die Neuronen in der Netzhaut unterstützen und in erster Linie auf Glukose zur Energiegewinnung angewiesen sind, stellten sie fest, dass die Zellen die Expression des GLUT1-Gens erhöhten. Das stellt ein Protein her, dass Glukose in die Zellen transportiert.
Die Forscher fanden heraus, dass die Zellen als Reaktion auf einen niedrigen Blutzuckerspiegel die Konzentration des Hypoxie-induzierbaren Faktors (HIF)-1α erhöhten. Dadurch wurde die zelluläre Maschinerie – einschließlich GLUT1 – in Gang gesetzt, die erforderlich ist, um die verfügbare Glukose besser zu verwerten und den begrenzten Sauerstoff für die Energieproduktion der Netzhautneuronen zu erhalten.
In sauerstoffarmen Umgebungen, wie sie in den Netzhäuten von Patienten mit diabetischer Augenerkrankung vorkommen, löste diese normale, physiologische Reaktion auf niedrige Glukose jedoch eine Flut von HIF-1α-Protein in den Zellkern aus. Dies führte zu einem Anstieg der Produktion von Proteinen wie VEGF und ANGPTL4, die das Wachstum abnormaler, undichter Blutgefäße verursachen – die Hauptursache für den Sehkraftverlust bei diabetischer Retinopathie.
Die Forscher wollen nun untersuchen, ob ein niedriger Blutzuckerspiegel bei Diabetikern ähnliche molekulare Pfade in anderen Organen wie der Niere und dem Gehirn beeinflussen kann. Sodhi zufolge könnte der HIF-1α-Signalweg auch ein wirksames Ziel für die Entwicklung neuer Behandlungsmethoden für diabetische Augenkrankheiten sein.
Dieser Artikel beruht auf einer Pressemitteilung der John Hopkins Medicine. Die Originalpublikation haben wir euch hier und im Text verlinkt.
Bildquelle: Lukas Tennie, unsplash