Medienberichte über intraoperative Wachheit sorgten bei Patienten für Unsicherheit. So hieß es zum Beispiel: „Probleme während Vollnarkose – Patienten wurden bei OP unruhig“. Anästhesisten fühlten sich durch die Berichterstattung angegriffen. Wie groß ist das Risiko tatsächlich?
Patienten machen sich immer noch viele Gedanken, falls Ärzte eine OP in Allgemeinanästhesie durchführen. Sie fürchten sich unter anderem vor intraoperativen Wachzuständen, bekannt als Awareness. Betroffene nehmen ihre Umwelt mehr oder minder deutlich wahr und können sich im Nachhinein teilweise an den Eingriff erinnern. Laienmedien schürten Mitte Dezember neue Ängste. Was war passiert?
Wie das Uniklinikum Magdeburg berichtet, beobachteten Ärzte bei drei Patienten während der Narkoseeinleitung mit Propofol reflexhafte Bewegungen. Kurz darauf passten sie die Dosis an. Weitere Probleme seien nicht aufgetreten. Auch der Kontakt zum pharmazeutischen Hersteller blieb ohne Erkenntnisgewinn. „B. Braun wurde seinerzeit darüber informiert, dass Patienten bei der Gabe von Propofol aufwachten“, sagte eine Sprecherin des Krankenhauses. „Wir haben daraufhin die Chargendokumentation überprüft und keine Auffälligkeiten festgestellt.“ Und das zuständige Wissenschaftsministerium teilte auf Anfrage mit, es sei kein Fehlverhalten erkennbar. https://www.youtube.com/watch?v=ow_5vHPkd3A Prof. Dr. Dr. Thomas Hachenberg, Direktor der Klinik für Anästhesiologie und Intensivtherapie am Universitätsklinikum Magdeburg, ergänzt: „Intraoperative Wachheit ist ein sehr seltenes Phänomen, wenngleich es für den Patienten ein sehr belastendes Ereignis ist.“ Angaben zur Häufigkeit lägen zwischen ein oder zwei Fällen pro 1.000 Narkosen bis hin zu einem Fall pro 19.000 Narkosen. Bei Kindern sei das Risiko jedoch acht bis zehn Mal höher, berichtet Professor Dr. Petra Bischoff vom Klinikum der Ruhr Universität Bochum. Als mögliche Risikofaktoren gelten Muskelrelaxanzien, nicht planbare Eingriffe, herzchirurgische OPs und Schnittentbindungen, aber auch der Abusus von Drogen. Personen, die laut Risikoklassifikation in die Kategorien vier (Patienten mit lebensbedrohlicher Erkrankung) oder fünf (moribunde Patienten, die ohne Eingriff wahrscheinlich nicht überleben) fallen, haben auch deutlich häufiger intraoperative Wachzustände. Was können Ärzte dagegen unternehmen? Experten der American Society of Anesthesiologists empfehlen die isolierte Unterarmtechnik (isolated forearm technique, IFT). Bevor sie Muskelrelaxantien verabreichen, wird eine Blutsperre am Oberarm angelegt, so dass der Unterarm noch bewusst bewegt werden kann. Per Kopfhörer wird der Patient dazu regelmäßig aufgefordert, sich im Falle einer Awareness zu bewegen. Robert D. Sanders von der University of Wisconsin-Madison fand heraus, dass 4,6 Prozent aller Patienten unter Allgemeinanästhesie per IFT reagierten. Seine Kohorte umfasste 260 Patienten. https://www.youtube.com/watch?v=ZEAYsEbkJrw Technische Systeme könnten mittelfristig eine Alternative zur IFT darstellen. Beim Entropiemonitoring oder beim Bispektralindex analysieren Algorithmen Unregelmäßigkeiten im EEG-Signal. Alle Verfahren haben momentan noch ihre Einschränkungen bei sehr alten Patienten, bei Ketamin oder bei Lachgas.
Weitaus gefährlicher als die Awareness ist die Aspiration von Mageninhalt. Britischen Daten zufolge handelt es sich um die häufigste tödliche Anästhesiekomplikation. Grund genug für deutsche Fachgesellschaften, Empfehlungen zu formulieren:
Birgit Larsen von der University of Aarhus liefert neue Argumente gegen die Unterscheidung zwischen klaren und trüben Flüssigkeiten. Sie gab gesunden Probanden Kaffee mit oder ohne Milch. Nach zwei Stunden bestimmte sie das Magenvolumen per MRT, ohne signifikante Unterschiede zu finden. „Die Ergebnisse unterstützen eine Liberalisierung von Milch in Heißgetränken vor geplanten Anästhesien“, konstatiert Larsen.
Selbst nach Ende des Eingriffs kommt es mitunter zu Komplikationen. Das postoperative Delirium geht mit vielfältigen Störungen des Bewusstseins, der Aufmerksamkeit und der Orientierung einher. Patienten müssen länger stationär betreut werden. Mitunter kommt es zur Selbstverletzung und zum eigenmächtigen Entfernen von Kathetern. Die Inzidenz schwankt zwischen 5 und 15 Prozent bei älteren Patienten beziehungsweise zwischen 10 und 80 Prozent bei Kindern. US-Anästhesisten setzen bei Erwachsenen auf Ketamin-Bolusgaben. Sie berufen sich u.a. auf tierexperimentelle Arbeiten sowie auf eine Cochrane Review. Diese Praxis stellt Michael S. Avidan mit einer randomisierten, doppelt verblindeten Studie infrage. Er randomisierte 672 Patienten in drei Gruppen mit 0,5 mg/kg Ketamin, 1,0 mg/kg Ketamin oder Placebo. Überraschenderweise halluzinierten unter Verum 20 bzw. 28 Prozent, verglichen mit 18 Prozent unter dem Scheinmedikament. Avidan fordert deshalb, die gängige Praxis zu überdenken. Besser sieht die Sache bei Clonidin nach Vollnarkose mit Sevofluran und Fentanyl aus. Mogens Ydemann von der Uni Kopenhagen nahm 379 Kinder zwischen einem Jahr und fünf Jahren in ihre Studie auf. Sie erhielten intraoperativ Clonidin oder Kochsalzlösung. Unter Verum war ein Aufwachdelir deutlich seltener als unter Placebo, nämlich 25 versus 47 Prozent.
Ist der Patient aufgewacht, drohen in den nächsten Tagen oder Wochen weitere Gefahren. Selbst ohne Auffälligkeiten kommt es bei nicht-kardialen Eingriffen zur Myokardschädigung und zu einer deutlich erhöhten Mortalität. Zwei Forschergruppen zeigen jetzt unabhängig voneinander, dass sich Troponine als Marker eignen. Diese Proteine gelangen ins Blut, sollten Herzmuskelzellen geschädigt werden. Philip J. Devereaux von der McMaster University im kanadischen Hamilton wertete für eine Beobachtungsstudie Daten von 21.842 Patienten aus. Sie waren im Schnitt 63 Jahre alt und mussten sich aus unterschiedlichen Gründen operieren lassen. Kardiologische Indikationen zählten nicht dazu. Wie Devereaux berichtet, gab es Assoziationen zwischen dem perioperativen Spiegel an hochsensitivem Troponin T (hsTnT) und der 30-Tage-Mortalität. Die Sterblichkeit lag bei 0,5 Prozent für weniger als 20 ng/L, bei 3,0 Prozent für 20 bis 65 ng/L, bei 9,1 Prozent für 65 bis 1.000 ng/L und bei 29,6 Prozent für noch höhere Werte. Diese Ergebnisse bestätigte Christian Puelacher vom Universitätsspital Basel anhand einer Kohorte mit 2.018 Patienten. Bei 397 von 2.546 Operationen detektierte er Myokardschädigungen anhand von hsTnT-Werten. Die 30-Tage- und die Ein-Jahres-Mortalität waren in dieser Gruppe deutlich erhöht (9,8 versus 1,6 Prozent bzw. 22,5 versus 9,3 Prozent). Weder Devereaux noch Puelacher sehen aktuell eine Möglichkeit, zu intervenieren.
Gefahren lauern nicht nur bei älteren, multimorbiden Patienten. Ob Allgemeinanästhesien in jungen Jahren der Gehirnentwicklung schaden, ist umstritten. Bei jungen Tieren zeigen viele Wirkstoffe neurotoxische Potenziale: eine Erkenntnis, die sich nur bedingt auf Menschen übertragen lässt. Experten der US Food and Drug Administration kommen zu dem Fazit, dass „eine einzelne, relativ kurze Exposition gegenüber Betäubungs- und Sedierungsmitteln bei Säuglingen oder Kleinkindern wahrscheinlich keine negativen Auswirkungen auf das Verhalten oder Lernen hat“. Basis ihrer Empfehlung ist unter anderem eine Arbeit von Andrew J. Davidson, Melbourne. Er hat insgesamt 722 Kinder, die innerhalb von 60 Wochen nach ihrer Geburt operiert werden mussten, einer Regionalanästhesie- und einer auf Sevofluran basierenden Allgemeinanästhesie-Gruppe zugeordnet. Bei der kognitiven Entwicklung im Alter von zwei Jahren gab es keine signifikanten Unterschiede. Auch die PANDA-Studie („Pediatric Anesthesia NeuroDevelopment Assessment“) zeigte keinerlei Auffälligkeiten. Bei dieser Kohorte vergleichen Ärzte Geschwisterpaare mit und ohne Vollnarkose im Laufe ihrer Entwicklung. Eine schwedische Registerstudie mit 33.514 Kindern zeigt kleine, aber signifikante Assoziationen. Die Teilnehmer hatten bis zum vierten Lebensjahr unterschiedlich viele Vollnarkosen erhalten. Gemessen an Schulnoten betrug der Unterschied 0,41 Prozent (eine Vollnarkose), 1,41 Prozent (zwei Vollnarkosen) beziehungsweise 1,82 Prozent (drei oder mehr Vollnarkosen). Die Arbeit liefert Hinweise, kann aber keine Kausalität beweisen. Und nicht zuletzt fand Robert I. Block von der University of Iowa Hinweise im MRT, dass frühe Allgemeinanästhesien die gesamte weiße Substanz signifikant um 1,5 Prozent reduzieren. Alle Kohortenstudien beweisen letztlich keine Kausalität.
Als Fazit bleibt, dass Narkosen nach professionellen Standards heute sicher sind. Die letzte Studie mit breit angelegter Datenbasis wurde im Jahr 2014 veröffentlicht. Dr. Dr. Jan-H. Schiff vom Klinikum Stuttgart hat zusammen mit Kollegen Daten zu 1,36 Millionen Narkosen in Deutschland ausgewertet. In 36 Fällen traten schwerwiegende Komplikationen auf. Ein Expertenteam ordnete zehn Ereignisse eindeutig der Anästhesie zu. Damit treten bei mindestens einem von 140.000 Patienten fatale Komplikationen durch die Narkose selbst auf.