Goodbye altvertrautes Physikum? Magisterarbeit für angehende Mediziner? Keine Trennung mehr zwischen Vorklinik und Klinik? Das könnte schon bald die Realität an deutschen Universitäten sein. Was auf die künftigen Ärzte zukommt.
Es ist Anfang Juli 2014. Sommer in Dresden. Der deutsche Wissenschaftsrat tagt auf seinen alljährlichen Sommersitzungen. Er ist verantwortlich für die Beratung der Bundes- und Länderregierungen in Fragen der inhaltlichen und strukturellen Entwicklung der Hochschulen, der Wissenschaft und der Forschung. Dieses Jahr spielt auch die Struktur des Medizinstudiums an deutschen Fakultäten eine Rolle. Hier sieht der Wissenschaftsrat viel Nachholbedarf – vor allem in Bereichen der medizinischen Wissenschaft und Forschung. „Die Einführung der Modellklausel im Medizinstudium hat einen kontinuierlichen Veränderungsprozess angestoßen und – auch im Hinblick auf die Reform von Regelstudiengängen – Kreativität und Gestaltungswillen an den Fakultäten freigesetzt. Sie kann als Erfolg gewertet werden, erläuterte der Vorsitzende des Wissenschaftsrates, Manfred Prenzel, im Anschluss an die Sommersitzungen des Wissenschaftsrates.
Auf einer 3-tägigen Sitzung erarbeiten die Ratsmitglieder, welche Reformen benötigt werden, damit das Medizinstudium sich zukunftsorientierter weiterentwickeln kann. Eine Empfehlung des Wissenschaftsrates ist es, zukünftig „integrierte und patientenorientierte Curricula“ einzuführen. Vorklinische und klinische Inhalte sollen hierbei während des gesamten Studiums generell kombiniert werden, wie es derzeit schon bei vielen Modellstudiengängen üblich ist. Studieninhalte würden dann vornehmlich in fächerübergreifenden, organ- und themenzentrierten Modulen vermittelt werden und nicht mehr getrennt nach Fachrichtung. Dies soll zu mehr Praxisbezug schon zu Beginn des Studiums führen und der Komplexität von Krankheit und Gesundheit Rechnung tragen. So können grundlegende biologische Prinzipien und pathophysiologische Mechanismen an klinischen Beispielen erarbeitet und in späteren Semestern grundlagenmedizinische Inhalte für das Verständnis von Krankheitsprozessen vertieft werden. Diese interdisziplinäre Vernetzung soll den Studierenden ein Verständnis der Zusammenhänge anatomischer, molekular- und zellbiologischer, physiologischer und psychosozialer Prinzipien mit klinischen Bezügen ermöglichen. Vorgesehen ist zudem ein frühzeitiger stärkerer Patientenkontakt der Studenten. Der kommt nach Meinung des Wissenschaftsrates momentan viel zu kurz. Auch der Erwerb psychosozialer und kommunikativer Kompetenzen soll stärker gefördert werden. Wie die Reformen im Einzelnen umgesetzt werden sollen, ist allerdings noch nicht klar. Hier sieht der Rat weiteren Forschungsbedarf.
Als zentralen Baustein seiner Reformvorschläge sieht der Wissenschaftsrat die Stärkung der wissenschaftlichen Kompetenzen der Studierenden. So sei es für die ärztliche Fähigkeit, von Patientenproblemen ausgehend spezifischen Fragestellungen nachgehen zu können, Voraussetzung, ein grundlegendes Verständnis von Wissenschaft und Forschung zu besitzen. Die zukünftigen Ärzte müssten in der Lage sein, wissenschaftlich denken und handeln zu können, um für die Patienten adäquate Diagnose- und Therapiemöglichkeiten abschätzen und auswählen zu können. Um das zu gewährleisten sollen künftig alle Studierenden während des Studiums ein Problem aus dem Gebiet der Medizin selbstständig nach wissenschaftlichen Methoden bearbeiten und eine verpflichtende Forschungsarbeit darüber verfassen. Diese „Magisterarbeit“ für angehende Ärzte soll einen Bearbeitungsumfang von mindestens 12 Wochen haben. „Ärztinnen und Ärzte müssen im Stande sein, evidenzbasierte Entscheidungen zu treffen. Der Erwerb wissenschaftlicher Kompetenzen im Studium ist daher notwendige Voraussetzung für die verantwortungsvolle ärztliche Berufsausübung“, erklärte Manfred Prenzel. Um die notwendigen Grundlagen wissenschaftlichen Arbeitens einzuüben, soll dazu bereits vor der eigentlichen Forschungsarbeit eine Projektarbeit in den Grundlagenfächern mit einem Bearbeitungszeitraum von vier Wochen durchgeführt werden. Die Räte hätten die Empfehlungen mit großer Mehrheit beschlossen, sagte Professor Hans-Jochen Heinze, der den Ausschuss Medizin des Wissenschaftsrates leitet. Sie sähen darin keine Widersprüche zu einer versorgungsorientierten Ausbildung.
Für künftige Medizinstudenten bedeuten diese Vorschläge im sowieso schon voll gepackten Studium mehr Arbeit, doch gleichzeitig erlernen sie wissenschaftliche Forschungsmethoden, die ihnen später nützlich sein können. Ist also ein stärker wissenschaftlich orientiertes Medizinstudium sinnvoll? Die Medizinstudenten Frederik und Annabel sehen die Vorschläge des Wissenschaftsrates unterschiedlich. Frederik Buchheimer, der im 7. Semester in München studiert, steht den Forderungen des Wissenschaftsrates eher kritisch gegenüber: „In 3 Monaten kann man so gut wie keine wissenschaftliche Fragestellung lösen, vor allem, wenn man noch nie ein Labor von innen gesehen hat. Ärzte sollten nicht forschen „müssen“, dafür haben wir sehr kompetente Biomediziner. Das Medizinstudium ist auch ziemlich vollgepackt und schon jetzt fast zu kurz, um die Fülle an Stoff zu bewältigen. Außerdem brauchen die allermeisten experimentelle Kenntnisse später nie wieder. Für den Kliniker spielt es oft keine große Rolle, wie die Arbeit im Labor aussieht und diejenigen, die es interessiert, schreiben eben eine umfangreichere medizinische Doktorarbeit. Man sollte lieber mehr Praxiseinsätze einführen, anstatt die Studenten noch mehr zu strapazieren. “ Anders sieht das Annabel Schön, Studentin im 10. Semester aus Heidelberg: „Ich denke, es ist nicht so schlecht, wenn wir Mediziner auch mal erfahren, wie richtige Laborarbeit aussieht. Eigenständiges wissenschaftliches Arbeiten kennenzulernen hat, selbst wenn man später etwas gänzlich anderes macht, viele Vorteile. Man wird beispielsweise medizinische Studien besser einordnen können. Oder wissen, wie bestimmte medizinische Forschungsergebnisse zu Medikamenten zustandekommen. Auch als Vorbereitung auf die Doktorarbeit ist es sicher nicht schlecht, vorher schon einmal Laborluft geschnuppert zu haben.“
Da die umfangreichen Reformen und vor allem die verstärkte wissenschaftliche Konzentration des Studiums viel Zeit in Anspruch nehmen, sollen im Ausgleich dazu die klassischen Fächer der Medizin in die zweite Reihe rücken. Im Vordergrund finden sich dann nur die Themen, die sich fächerübergreifend in Modulen vermitteln lassen. Um das Studium nicht noch weiter zu überfrachten, sollen nach Ansicht der Ratsmitglieder die verpflichtend vorgeschriebenen Anteile auf ein Kerncurriculum reduziert werden, das etwa 75-80 % des jetzigen Stoffes umfassen soll. Verbunden damit ist auch eine Reduktion der Prüfungsinhalte, ganz zum Leidwesen der Lehrstühle und zur Freude vieler Studenten. Dadurch soll auch die Eigenverantwortlichkeit der Studenten gestärkt werden. Die angehenden Ärzte sollen zukünftig viel stärker als bisher Einfluss auf ihren Stundenplan nehmen können; 20-25 % der Studieninhalte sollen sie selbst bestimmen können. Dadurch würden sie stärker für ihre Fortschritte im Studium motiviert und hätten die Möglichkeit, individuelle Studienschwerpunkte zu setzen. Außerdem fördert dies die Auseinandersetzung mit der eigenen Berufs- und Karriereplanung und würde einer zu starken Verschulung des Medizinstudiums entgegenwirken.
Eine weitere weitreichende Änderung, die der Wissenschaftsrat vorschlägt, ist die Anpassung der Staatsprüfungen an die Anforderungen der kompetenzbasierten und integrierten Curricula. „Aus Gründen der Qualitätssicherung und Vergleichbarkeit präferieren wir eine bundeseinheitliche Zwischenprüfung nach dem sechsten Fachsemester“, erklärte Hans-Jochen Heinze. Den Studenten soll so zu einem einheitlichen Zeitpunkt der zeitverlustfreie Wechsel des Studienortes ermöglicht werden – auch im internationalen Bereich. Die Prüfung soll nach dem 6. Semester erfolgen, da durch die stärkere Verzahnung von Klinik und Vorklinik der Lehrstoff nicht innerhalb von zwei Jahren zu bewältigen wäre. Die Famulatur soll dafür dann schon vorher abgeleistet werden können. Außerdem rät der Wissenschaftsrat, die physikumsähnliche Prüfung um einen strukturierten klinisch-praktischen Prüfungsteil zu ergänzen, für dessen Durchführung die Fakultäten verantwortlich sein sollen. „Die mündlich-praktischen Teile der Ärztlichen Prüfungen bedürfen zwingend einer stärkeren Standardisierung“, meinte der zuständige Ausschussvorsitzende.
Auch das PJ hat der Wissenschaftsrat genauer unter die Lupe genommen. Er fordert, das Praktische Jahr künftig zur Steigerung der Wahlfreiheit der Studierenden in vier Ausbildungsabschnitte zu je 12 Wochen zu gliedern; statt der Tertial- erwartet die Studenten dann also eine Quartalsstruktur. Neben weiterhin verpflichtenden Ausbildungsabschnitten in Innerer Medizin und Chirurgie sollten die weiteren zwei Quartale aus den medizinischen Fachgebieten frei gewählt werden können. Mit der Vorgabe, dass mindestens drei verschiedene Fachgebiete gewählt werden müssen. Eine individuelle Schwerpunktsetzung mit zwei Quartalen für nur ein Fach (Wahl- oder Pflichtfach) sollte zugelassen werden. Der Vorschlag zu mehr Wahlfreiheit im PJ freut vor allem die Bundesvertretung der Medizinstudieren, die schon lange für eine solche Regelung kämpft und vor allem eine Pflichtabsolvierung in der Allgemeinmedizin verhindern will, was auch der Wissenschaftsrat nicht für zielführend hält.
Der sich abzeichnende Hausärztemangel spielte für die Vorschläge der Ratsmitglieder eine besondere Rolle. Sie fordern, die Allgemeinmedizin bei der Umgestaltung der Lern- und Prüfungsinhalte stärker zu berücksichtigen. Neben einer flächendeckenden Institutionalisierung der Allgemeinmedizin an allen Universitäten sollen sich die Studenten in weiteren Lehrveranstaltungen mit den spezifischen Problemen der primärärztlichen Versorgung befassen. Denkbar wären nach Ansicht des Wissenschaftsrates beispielsweise eine studienbegleitende Patientenbetreuung in einer allgemeinmedizinischen Praxis - wie das schon in einigen Modellstudiengängen vorkommt - , eine Einführung in die Forschungsansätze der Allgemeinmedizin und ein verbessertes Angebot der Allgemeinmedizin im Praktischen Jahr.
Ob sich wirklich alle Reformvorschläge des Wissenschaftsrats umsetzen lassen werden, bleibt abzuwarten. Noch haben die Bundes- und Länderregierungen nichts auf Grundlage seiner Forderungen entschieden. Sicher ist aber, dass sich das Medizinstudium in den nächsten Jahren schrittweise verändern wird. Es komplett nach den Vorschlägen des Rates umzustrukturieren, wäre jedoch mit Sicherheit ein jahrelanger Prozess. Die Bundesärztekammer stimmt den Forderungen des Wissenschaftsrates jedoch weitgehend zu. „Gute medizinische Ausbildung muss angesichts des enormen Innovationstempos in der Medizin mehr denn je wissenschaftliches Denken und Handeln fördern“, erklärte BÄK-Präsident Professor Frank Ulrich Montgomery. Auch Frederik Buchheimer begrüßt einige der Vorschläge des Rats: „Die stärkere Einbindung klinischer Inhalte in die Vorklinik finde ich gar nicht schlecht. So kann man viel vernetzter Stoffzusammenhänge lernen. Auch die größere Wahlfreiheit im PJ ist eine Verbesserung. Was ich hingegen gar nicht gut finde ist, neben der verpflichtenden Forschungsarbeit für uns Studenten, die obligatorische Vorgabe, mehr Allgemeinmedizin im Studium zu integrieren. Keine Frage, man muss etwas gegen den Hausärztemangel unternehmen, aber dies sollte nicht durch Zwang der Studenten geschehen.“ Wie das Medizinstudium 2020 schließlich aussehen wird – wissenschaftlich-modern oder ballastreich-überfrachtet – wird sich in den kommenden Jahren zeigen.