In Dänemark wird über ein Beschneidungsverbot bei Kindern debattiert. Auch die überarbeiteten Leitlinien zu Phimose und Paraphimose sprechen sich im Zweifelsfall für den Erhalt der Vorhaut aus. Fällt Ärzten die Entscheidung für oder gegen eine Zirkumzision jetzt leichter?
Beschneidung der Vorhaut – dieses Thema sorgt immer wieder für Kontroversen. Diesen Herbst wird etwa das dänische Parlament darüber entscheiden, ob eine Zirkumzision unter 18 Jahren verboten werden soll. Im Juni hatten 50.000 Dänen eine Petition gegen die Beschneidung von Minderjährigen unterschrieben. Auch in Island und Schweden wird ein Verbot im Parlament debattiert. In Deutschland ist die Rechtslage klar: Seit 2012 gilt § 1631d BGB, dass die Beschneidung männlicher Juden und Muslime in jedem Alter erlaubt ist, sofern dies „nach den Regeln der ärztlichen Kunst“ geschieht. Das Gesetz hat Rechtssicherheit für die Religionsgemeinschaften gebracht. Aus medizinischer Sicht bleibt die Beschneidung umstritten: Ob sie notwendig ist, und wenn, in welcher Form, hängt von der Bewertung einzelner Symptome, Befunde und Beschwerden sowie von der Erfahrung und der Einschätzung des jeweiligen Arztes ab. Im September 2017 wurde die aktualisierte Leitlinie Phimose und Paraphimose der Deutschen Gesellschaft für Kinderchirurgie (DGKCH) veröffentlicht. Ist die Entscheidung für oder gegen eine Zirkumzision für Ärzte seitdem leichter? „Die Änderungen der Leitlinie waren nötig und haben sich als positiv erwiesen“, sagt Tobias Schuster, Vorsitzender der Fachgesellschaft für Kinderchirurgie. „Es war wichtig, den Respekt vor und den Erhalt des Präputiums deutlich hervorzuheben. Der Grund für die Aktualisierung war die derzeitige Diskussion über den soziokulturellen Aspekt der Beschneidung, und als Mediziner mussten wir uns stark machen gegen eine nicht wirklich medizinisch notwendige Zirkumzision.“ Zum Teil werde dies allerdings ein wenig überbetont, urteilt Schuster: „Es schwingt der Tenor mit, die rund 30 Prozent der beschnittenen Männer auf dieser Welt könnten sexuelle Nachteile haben.“
Ob dem so ist oder nicht, ist ungewiss. Es gibt lediglich Hinweise, dass Beschneidungen zu schlechteren sexuellen Empfindungen führen. Fest steht, dass sich auf der Innenseite der Vorhaut Rezeptoren befinden, die bei der Empfindung sexueller Aktivität eine Rolle spielen. Inwieweit dies als Manko empfunden wird, ist individuell verschieden. Grundsätzlich bleibt die Grundhaltung der neuen Leitlinie für Kinderurologen und Kinderchirurgen konservativ und vorhauterhaltend. Unter dem Strich habe sich wenig geändert, sagt Schuster. „Die Leitlinie unterstreicht, dass man die Indikation für eine Beschneidung nicht leichtfertig stellen soll. Und sie ist als Hilfe für die Entscheidung in spezifischen Situationen gedacht.“ Kinderchirurg Tobias Schuster In der Leitlinie wird betont, dass das Präputium weit mehr als nur ein Häutchen ist. Als modifizierte, zweilagige und mit Nerven angereicherte Verlängerung der Schafthaut des Penis hat es nicht nur eine Schutzfunktion für die Eichel. Ihre Unterseite bildet eine dünne Schleimhaut, die wiederum aus zwei Teilen besteht und unterschiedliche Aufgaben hat. Die glatte Schleimhaut auf der Eichel enthält Talgdrüsen, die schützende Antikörper sowie Emollienten produzieren, also feuchthaltende und weichmachende Sekrete, ähnlich wie die im Mund oder den Augenlidern. Die gefurchte Schleimhaut hinter der Vorhautöffnung besteht aus konzentrischen Bändern, die sich ausdehnen und wieder zusammenziehen können.
Eine Phimose gehört zu den häufigsten Gründen für eine Zirkumzision. Es wird zwischen einer angeborenen, primären Phimose und der erworbenen, sekundären Phimose unterschieden. Erstere bezeichnet eine Vorhautverengung, die sich weder im Wachstumsverlauf noch durch konservative Therapie zurückbildet. Die Gründe hierfür sind nicht bekannt. Die sekundäre Phimose fasst Vernarbungen der Vorhaut zusammen, die deren Geschmeidigkeit verringern. Gründe, warum solche Narben entstehen können, sind zum Beispiel gewaltsame Versuche, das Präputium zurückzuziehen. Auch Erektionen können der engen Vorhaut schon beim Säugling Verletzungen zufügen. Ebenso können Diabetes mellitus oder Hauterkrankungen wie Lichen sclerosus et atrophicans zu Entzündungen der empfindlichen Haut führen, deren Folge Vernarbungen sind. Haben sich erst einmal Narben gebildet, kann dies ein fortlaufender Prozess sein. Kindernephrologe Lutz Weber Eine beginnende sekundäre Phimose lässt sich an der Anatomie der Vorhaut erkennen: „Wenn eine über die Maßen enge Vorhaut vorliegt und dieser Säugling oder dieses kleine Kind Erektionen hatte, die wiederholt zum Sprengen der präputialen Öffnung geführt haben, dann beginnt sie, sich narbig umzubauen. Sie sehen dann nicht das typische Blumen-Zeichen, sondern einen beginnenden narbigen Ring“, erklärt Schuster.
Kinderchirurg Schuster betont, dass die aktualisierte Leitlinie in Hinblick auf die sekundäre Phimose auch Angriffsfläche bietet, da sich hier einige Unklarheiten finden. Der Leitlinie könne man entnehmen, dass eine therapierelevante Phimose umso unwahrscheinlicher ist, je jünger das Kind sei. Aber Schuster betont, eine sekundäre Phimose könne bereits beim Säugling oder Kleinkind auftreten. „Dieser Teil ist in der Leitlinie nicht ganz deutlich herausgearbeitet worden, was von einigen Kollegen kritisch gesehen wird.“ Zur sekundären Phimose findet man in der Leitlinie nur wenige Informationen: „Über die Häufigkeit sekundärer Phimosen gibt es keine verlässlichen Angaben. Es gibt auch keine Angaben darüber, in welchem Prozentsatz Entzündungen oder Verletzungen zu narbigen Veränderungen und sekundären Engen führen“, heißt es. Und: „Die Inzidenz des Lichen sclerosus ist unbekannt. Schätzungen gehen von einer Häufigkeit von 0,3 – 0,6 % aller Jungen aus, selten vor dem 6. Lebensjahr“. Sie wird nach Angaben der Leitlinie bei bis zu 34 % aller Vorhäute, die aufgrund einer pathologischen Phimose entfernt wurden, nachgewiesen.
Manchmal wird eine Phimose auch mit einer Vorhautverklebung verwechselt. Bei der Verklebung (Konglutination) lässt sich die Harnröhrenöffnung meist erkennen, und der Vorhautrand ist unauffällig. Im Unterschied dazu ist der Vorhautrand bei Phimose deutlich verdickt, und die Vorhaut lässt sich nicht zurückziehen. Die Harnröhrenöffnung bleibt verborgen. Vorhautverklebungen sind bei Neugeborenen normal und lösen sich spätestens bis zum dritten Lebensjahr; Eingriffe sind nicht erforderlich. Sie hat keine pathologische Bedeutung außer der, dass sie zu Infektionen führen kann, wenn der Urin nicht richtig abfließt. Es können sich Taschen bilden und in der Folge Entzündungen. In diesem Fall und auch bei Vorliegen einer leichten Verengung mit Problemen, die Vorhaut nach der Retraktion wieder nach vorne zu bringen, ist es möglich, mit einem chirurgischen Eingriff die Vorhaut zu erweitern, ohne sie zu entfernen. Zunächst wird jedoch mit einer Kortisonsalbe behandelt. „In der aktuellen Leitlinie steht, dass man die Verklebung in 90 Prozent der Fälle mit Hilfe einer Kortisonsalbe öffnen kann“, sagt Schuster. Die Erfahrung zeige jedoch, dass es häufig nicht so sei. Patienten würden berichten, dass eine Kortisonsalbe, die vielleicht ein Kinderarzt oder Hausarzt einsetze, nicht zur Lösung führe. Eine Paraphimose, auch „spanischer Kragen“ genannt, ist ein urologischer Notfall, bei der die zurückgezogene Vorhaut die Eichel abschnürt. Das Präputium gleitet nicht über die Glans zurück, sondern klemmt am Penisschaft, weil der venöse Abstrom unterbrochen wird und Eichel sowie Vorhaut anschwellen, was die Rückstreifung verhindert. Wird nicht schnell eine Reposition durchgeführt, so kann die Blutversorgung ganz enden und Glans wie auch Vorhaut können absterben. Meist ist infolge starker Vernarbung eine Zirkumzision als Therapie indiziert.
Fest steht: Eine primäre Phimose ist immer behandlungsbedürftig. Bei einer sekundären Phimose kommt es auf den Schweregrad an: Wenn die präputiale Einengung bereits narbig umgebaut ist oder zu Problemen wie etwa einer Miktionsstörung führt, wenn sich die Vorhaut aufbläht und das Kind nur mit Widerstand urinieren kann, wenn sich der Bereich wiederholt schwer entzündet und Eiter aus der Vorhaut tritt, muss die Phimose behandelt werden. Im fortgeschrittenen Stadium ist das Präputium inflammatorisch rot, entzündet, auch beginnend narbig und eng. Kaum zieht man es zurück, reißt es ein und blutet. Die chronische Entzündung schreitet fort und führt klassischerweise zu einer Enge der Harnröhrenöffnung, denn die chronisch entzündliche Vorhaut verklebt mit der Eichel, auf der sich ebenfalls Narben bilden. Diese Entzündung kann sich bis zu der Öffnung, dem Meatus, hinziehen. Durch die ständige Reizung an der Öffnung der Harnröhre entsteht schließlich die Stenose. Bei der Operation ist aber besondere Vorsicht geboten: Nach dem Abtragen der Entzündung heilt die Haut der Eichel übermäßig, auch das kann zu einer – eventuell erneuten – Meatusstenose führen.
„Die Indikation für eine Behandlung der Phimose ergibt sich in unserem Fachgebiet dann, wenn Kinder eine höhergradige Harntransportstörung haben“, sagt der Kindernephrologe Prof. Dr. Lutz Weber von der Uniklinik Köln. Der höhergradige Reflux von Urin aus der Blase in die Nieren gehe häufig mit einer erhöhten Rate von Harnwegsinfektionen einher, sagt Weber: „Hier ist eine Zirkumzision zu erwägen. Ob dies eine gute Lösung ist, muss aber individuell entschieden werden.“ Es gebe Hinweise, dass Kinder mit einem solchen höhergradigen vesikoureteralen Reflux, die rezidivierende Harnwegsinfektionen hätten, von einer Zirkumzision hinsichtlich des Risikos der Harnwegsinfektionen profitieren könnten. Dies gelte noch etwas mehr für Jungen mit hinteren Harnröhrenklappen.
Bei Verdacht auf eine Vorhautverengung raten Experten zunächst dazu, Ruhe zu bewahren. „Bei uns in der Praxis sind die Kinder meist nicht symptomatisch. Den Eltern ist eventuell lediglich aufgefallen, dass die Vorhaut nicht rückstreifbar ist, ohne dass die Funktionalität beeinträchtigt wäre“, sagt Kindernephrologe Weber: „Wir beraten die Eltern dann dahingehend, schlichtweg abzuwarten und zu beobachten, ob es Komplikationen gibt.“ Das könne eine Infektion an der Eichel und auch der Vorhaut sein. Wenn die Phimose sehr ausgeprägt sei, könnten es auch Ausweitungen des Vorhautsacks sein, wobei erst die darauf folgende Entzündung pathologisch sei. Er würde diesen physiologischen Zustand primär nicht behandeln, solange er komplikationslos ist, sagt der Nephrologe. Kinderchirurg Schuster warnt davor, die Vorhaut überhaupt zu manipulieren. Natürlich solle man sie entsprechend der Möglichkeiten vorsichtig zurückstreifen, um sie zu waschen. Doch: „Es gibt das Gerücht, man solle üben, also eine enge Vorhaut immer wieder zurückziehen, damit sie quasi mechanisch geweitet wird. Das stimmt natürlich nicht“, sagt er. Im Gegenteil: Manipulationen am Präputium sind der häufigste Grund dafür, dass Komplikationen entstehen. Denn durch gewaltsames Zurückstreifen einer noch nicht entwickelten Vorhaut kann es zu Rissen in der Schleimhaut kommen, die wiederum Narben bilden. „Man sollte, salopp gesagt, das Genital einfach in Ruhe lassen“, so Schuster.