Sind die üblichen Obergrenzen für Gesamteiweiß im Liquor hoch genug angesetzt? US-Forscher zweifeln das jetzt an. Wann sollten wirklich die Alarmglocken schrillen?
Mit Normwerten bei Laboruntersuchungen ist das so eine Sache. Im Idealfall hätte man gerne breit populationsbasierte Messungen von gesunden Menschen jeglicher Altersstufen, um den Korridor des Normalen adäquat zu definieren. In der Realität liegen entsprechende Untersuchungen oft nicht oder nur in begrenztem Umfang vor. Viele Normwertfestlegungen für Laborparameter – in den Labors selbst, aber auch in den Leitlinien medizinischer Fachgesellschaften – entstehen deswegen irgendwo im Grenzgebiet zwischen evidenz- und eminenzbasierter Medizin.
Das gilt umso mehr für Laborwerte, die den nur recht invasiv untersuchbaren Liquor betreffen. Ein praktisch immer bei der Liquordiagnostik genutzter Parameter ist das Gesamteiweiß. Eine Erhöhung des Gesamteiweiß kann auf eine Schrankenstörung der Blut-Hirn-Schranke hindeuten, wie sie bei Meningitis, Schädel-Hirn-Trauma oder auch Hirntumoren auftreten kann. Darüber hinaus kann eine intrathekale Eiweißsynthese den Wert in die Höhe treiben. Das ist u. a. bei der MS und bei diversen neurologischen Infektionen der Fall.
Die Kernfrage ist natürlich: Was genau ist „erhöht“? Wie groß ist die Spannweite des Normalen? Ab wann sollten die Alarmglocken schrillen? Für die Praxis ist das insofern relevant, als erhöhte Protein-Werte im Liquor von Labors teilweise als Trigger für eine erweiterte, dann detailliertere Untersuchung des Liquors genutzt werden. Wer sich bei unterschiedlichen Labors umsieht, der findet häufig einen Normbereich von 5–45 mg/dl. Die 2019 zuletzt aktualisierte S1-Leitlinie Lumbalpunktion und Liquordiagnostik gibt einen Wert von < 50 mg/dl als normal an. Eine Differenzierung nach Alter erfolgt nicht.
An der Mayo Clinic in Rochester erfolgten jetzt im Zusammenhang mit der epidemiologischen Studie Mayo Clinic Study of Ageing Lumbalpunktionen bei einer populationsbasierten Kohorte von insgesamt 633 Menschen im Alter zwischen 32 und 95 Jahren. Dort wurde unter anderem Liquor-Protein gemessen. Und siehe da: Die kürzlich publizierten Ergebnisse wollen nicht so ganz zu Lehrbüchern und Leitlinien passen. Sie sind deutlich höher als das, was üblicherweise als normal betrachtet wird.
Konkret lag der Mittelwert in dieser Kohorte bei 52 mg/dl, die Spannweite betrug erhebliche 14–148 mg/dl. Mit höheren Protein-Spiegeln im Liquor waren in der multivariaten Analyse zunehmendes Alter, männliches Geschlecht und Diabetes assoziiert. Bei univariater Analyse gab es außerdem eine Assoziation mit Spinalkanalstenose und Bluthochdruck. Insgesamt scheint das Liquor-Protein damit ein deutlich variablerer Parameter zu sein, als der recht gestrenge Normwert suggeriert.
Die Autoren sehen daher Anpassungsbedarf. Die Teilnehmer der Mayo-Studie waren im Mittel 71 Jahre alt. Zumindest bei älteren Menschen spreche daher einiges für eine Erhöhung des „upper limit of normal“. Klinisch gilt ohnehin, was die S1-Leitlinie auch klar sagt: „Die Liquoranalytik erfordert eine zusammenfassende Beurteilung aller Einzelbefunde in einem integrierten Gesamtbefunde damit eine zuverlässige und diagnostisch wertwolle Befundaussage erzielt werden kann.“
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