Pflegenotstand, Patientenflut, demografischer Wandel – als hätte die Branche nicht schon genug zu kämpfen, werden unerwarteterweise nun auch die Lohnerhöhungen zum Problem.
Aktuell gibt es in Deutschland rund 5 Millionen Pflegebedürftige – bis 2050 soll die Zahl auf 7,5 Millionen ansteigen. Die Zahl der Pfleger liegt derweil bei 1,2 Millionen – rund 200.000 Personen fehlen, 4.000 davon auf den Intensivstationen. Auch diese Zahl wird sich mit prognostiziert 500.000 fehlenden Pflegern mehr als verdoppeln. Düstere Aussichten.
Da erscheint es unverständlich, wenn Maßnahmen, die dazu getroffen werden, den Beruf attraktiver zu gestalten und das System zu entlasten, dazu führen, dass Einrichtungen Steine in den Weg gelegt werden. Und damit de facto unnötiger Bettenleerstand produziert wird.
So der Fall in Deutschlands Südosten: Hier – wie in ganz Deutschland – sahen sich Pflegeeinrichtungen nach dem Gesetz zur Weiterentwicklung der Gesundheitsversorgung (GVWG) damit konfrontiert, dass sie ab September 2022 Lohnsteigerungen in Höhe des regional üblichen Entgeltniveaus oder angelehnt an ein Tarifwerk zahlen sollten. Für die Einrichtungen selbst bedeutete das zunächst Mehrausgaben von rund 10 bis 30 Prozent, wobei eben diese Mehrkosten über die Krankenkassen abgerechnet werden können – sofern die Häuser die Vorgaben zur Qualitätssicherung einhielten und erfolgreich verhandelten. Dennoch ein Mehr an Geld, das angesichts stark gestiegener Energiepreise sowie der anhaltenden Inflation erst einmal schwer wiegt. Für Pflegeeinrichtungen wie die Beatmungspflege24 in Karlsruhe bedeutete das erst einmal ein Versprechen in die Zukunft.
„Nun ist es so, dass wir mit festen Plätzen in unseren Einrichtungen arbeiten und auch rechnen müssen – vor allem um solche Preissteigerungen und unsere Investitionen auch abzusichern. Um diese aber mit Patienten zu belegen, gilt es eigene Verhandlungen zu den Stundensätzen und Konditionen mit den Krankenkassen zu führen, damit diese ihre Mitglieder bzw. Patienten in unsere Betreuung übersenden und wir später auf diesem Weg abrechnen können, wie es nach SGB V vorgesehen ist“, beschreibt Jürgen Ramin, Geschäftsführer des Intensivpflegedienstes Beatmungspflege24, die konkrete Situation.
Eben diese Verhandlungen zu den Kostenübernahmen der Lohnerhöhungen bzw. den Pflegelöhnen selbst orientieren sich dabei an Maßstäben, die die Kassen eigens formulieren. In Baden-Württemberg stellt die dortige AOK Landesvertretung als notwendiges Kriterium einen Personalschlüssel von Pfleger zu Pflegenden von 1 zu 1,5 auf. Auf Anfrage von DocCheck formuliert die AOK:
„In Wohngemeinschaften muss in Abhängigkeit der Größe der jeweiligen Wohngemeinschaft ein individueller Personalbedarf für den betreffenden Standort ermittelt werden. Teilen sich in einer ambulanten Wohngemeinschaft beispielsweise drei Menschen mit einem Bedarf an außerklinischer Intensivversorgung eine Wohnung, sind sie jederzeit auf eine fachpflegerische Versorgung angewiesen. Um ihnen die notwendige Versorgungssicherheit zu gewährleisten, ist aus Sicht der AOK Baden-Württemberg die ständige Anwesenheit von mindestens zwei Pflegefachkräften erforderlich. Nur so können sich die Pflegenden gegenseitig absichern, falls eine der beiden Fachkräfte einmal ausfallen sollte.“
Was erst einmal sinnvoll und nachvollziehbar klingt, scheint jedoch im praktischen Alltag – und insbesondere vor dem Hintergrund der Personalknappheit – zum unüberwindbaren Problem werden zu können, wenn man die Vorgaben nicht bereits erfüllte.
Eben jene genannten Wohngemeinschaften sind auch Teil des Pflegekonzepts der Beatmungspflege24 in ihrer Region. Entsprechend ging man zuversichtlich in die Verhandlungen zur Kostenerstattung mit den Krankenkassen – auch wenn der eigene Versorgungsschlüssel wissentlich bei 1 zu 2,5 lag. Immerhin ist dieser dauerhaft und rund um die Uhr flankiert von Hintergrund- und Bereitschaftsdiensten.
„Nun sagte die AOK, von der wir auch Patienten haben bzw. hatten: ‚ok, wir machen mit und ihr bekommt Summe x dafür, müsst aber den Versorgungsschlüssel 1 zu 1,5 gewährleisten‘. Das ist für uns aus etlichen Gründen aber nicht tragbar“, erklärt Sebastian Ramin, stellvertretender Pflegedienstleiter. „Die Begründung der AOK scheint dabei etwas merkwürdig, die sagt, dass bei einer ausfallenden Person sonst nicht ausreichend Personal für gute Qualität vorhanden wäre. Nun kommen wir aber aus der 1 zu 1 Pflege und arbeiten seit 14 Jahren erfolgreich mit unseren Konzepten, haben Sicherheitsmaßnahmen und sind auf alles vorbereitet – der neu eingesetzte Schlüssel wirkt da relativ willkürlich und praxisfremd.“
„Dieser hohe Personalbedarf resultiert aus Sicherheitsüberlegungen, da im Notfall bei den Patienten – anders als bei der Anwesenheit nur einer Pflegefachkraft – die anderen beiden Versicherten trotzdem abgesichert sind“, erklärt die AOK die Auswirkung, wenn die Einrichtungen bei ihrem eigenen Schlüssel blieben. Zwei Pflegefachkräfte sind auch zur Versorgung von sechs Bewohnerinnen und Bewohnern ausreichend. Dieses Personal wird von der AOK Baden-Württemberg refinanziert. Durch den unterschiedlichen Personalschlüssel reduziert sich der zu vergütende Stundensatz im genannten Beispiel um die Hälfte.“
Dass die AOK nun nicht von ihrer Position abweicht, verwundert insbesondere vor dem Hintergrund, dass es anderen Pflegeeinrichtungen der Region ebenso erging – und noch dazu, da die übrigen Krankenkassen wie Barmer, BKK, DAK oder TK den Schlüssel von 1 zu 2,5 mittrugen. Daraus folgt: AOK-Patienten können nicht in Häusern mit eben jenen Pflegeschlüsseln behandelt und untergebracht werden, die Kassen bekommen ihre Patienten schwieriger unter, die Betten werden möglicherweise seltener belegt und Patienten müssen unter Umständen umverlegt werden. Ein Nullsummengeschäft? Schaut man sich die Marktverteilung an (rund 45 Prozent der pflegebedürftigen Personen sind AOK Versicherte), kann man ahnen, wer am längeren Hebel sitzt. Ein Schelm, wer mit dem Wort „Marktführer“ nun etwas Negatives assoziiert.
Wie eine solche Situation im Lebensalltag von Patienten aussieht, weiß Jürgen Ramin: „Um das Ganze zu veranschaulichen, haben wir ein konkretes Beispiel, das zeigt, was es bedeutet, dass wir den Schlüssel nicht halten und letztlich aufgeben mussten. Wir hatten einen Patienten aus Eritrea, der als Flüchtling kam und bei der AOK versichert ist. Als die Verhandlungen gescheitert sind, da wir den Personalschlüssel nicht einhalten können, mussten wir der Kasse mitteilen, dass wir den Patienten abgeben müssen. Daraufhin hat die AOK eine Umversorgung in die Wege geleitet und am 23. Dezember mitgeteilt, dass der Patient nun verlegt wird – 3 Stunden Fahrtzeit mit den ÖPNV und 120 km entfernt. Was das für den Patienten bedeutet: Er wird aus seiner Infrastruktur herausgerissen, hat vor Ort keine Mittel und muss sich ein neues Leben aufbauen. Gleichzeitig kann ihn seine Familie nur mit sehr großem Zeitaufwand besuchen.“
Daneben berichten die Karlsruher auch von dem Problem auf der anderen Seite. So gebe es zwar Anfragen von örtlichen Krankenhäusern, doch müssen die Patienten weggeschickt werden, weil sie AOK-Patienten sind – obwohl die Betten zur Verfügung stünden.
Dass das beschriebene Schicksal zweifelsohne keine optimale Wendung genommen hat, ist so evident wie die Tatsache, dass die gesamte Branche der Generalüberholung bedarf. Mit dem Gesetz zur Weiterentwicklung der Gesundheitsversorgung (GVWG) wurden zwar Änderungen in Sachen Lohn und Struktur vorgenommen, die derzeit peu a peu durchgesetzt werden – ob und inwieweit diese praxistauglich und ausreichend sind, bleibt aber zu evaluieren. Eine Qualitätssicherung, die dadurch garantiert werden soll, dass Pflegedienstbetreiber in ein Wettbieten mit den Kassen treten, erscheint derweil zweifelhaft – hat es doch den Anschein, dass hier der kapitalistische Grundgedanke des Konkurrenzdenkens in die medizinische Grundversorgung Einzug erhält. Das konterkariert die Lauterbachsche Maxime, dass Wirtschaft und Medizin strikter voneinander getrennt werden sollen.
„Als Versicherter mache ich mir in jungen Jahren eigentlich keine Gedanken darüber, wo ich versichert bin. Schließlich müsste ich doch bei gesetzlichen Krankenkassen überall vergleichbare Leistungen erhalten. Wenn dann aber ein Schicksalsschlag kommt, habe ich plötzlich Pech und es stellt sich heraus, dass ich z. B. im Umkreis keinen Pflegedienst bekomme, weil ich bei der falschen Krankenkasse versichert bin“, beschreibt Sebastian Ramin den Unterschied für den konkreten Fall.
Letztlich sind die politischen Überlegungen, ebenso wie die Qualitätskriterien der Kassen die richtigen Ansätze, bedarf es aber unter Umständen ein wenig mehr Fingerspitzengefühl im praktischen Alltag sowie in Ausnahmefällen Kulanz und Einbezug der Praktiker vor Ort.
Bildquelle: Martha Dominguez de Gouveia, Unsplash