Nach dem Contergan-Skandal hat Thalidomid in den letzten Jahren ein Comeback als Krebsmedikament hingelegt. Aber auch andere Anwendungen bieten sich an. Welche das sind, lest ihr hier.
Thalidomid ist bis heute wohl jedem ein Begriff. Der berühmt-berüchtigte Wirkstoff kam in der späten 50er Jahren unter dem Namen Contergan als rezeptfreies Schlafmittel auf den Markt und wurde wegen seiner vermeintlich guten Verträglichkeit und Wirksamkeit gegen Morgenübelkeit verstärkt an Schwangere vermarktet. Die Folge: Schwerwiegende Fehlbildungen bei tausenden Neugeborenen – der vermutlich größte Skandal der deutschen Pharmaindustrie.
Nachdem das Medikament 1961 zunächst vom Markt genommen wurde, schaffte es – nun unter anderen Indikationen – ein Comeback: Wegen seiner entzündungshemmenden, tumorwachstumshemmenden und antiangiogenetischen Wirkung findet es unter anderem in der Behandlung von Lepra, verschiedenen Autoimmunkrankheiten und Multiplem Myelom Anwendung.
In einer aktuellen Studie in Science Translational Medicine werfen Forscher den Blick auf ein neues Einsatzgebiet. Sie untersuchten die Wirksamkeit von Thalidomid gegenüber strahlungsinduzierten Hirnschädigungen (radiation induced brain injuries, RIBI). Diese können als schwerwiegende Folge einer Radiotherapie bei Kopf-Hals-Tumoren auftreten. RIBI manifestieren sich in Form von Kopfschmerzen, Krampfanfällen und kognitiven Einschränkungen, welche zum Teil erst Monate und Jahre nach Abschluss der Strahlentherapie auftreten.
Grundsätzlich lassen sich RIBI mit Kortikosteroiden, sowie dem monoklonalen Antikörper Bevacizumab behandeln – allerdings sprechen nicht alle Patienten auf diese Erstlinientherapien an. Zudem bergen beide Therapien ihrerseits das Risiko erheblicher Nebenwirkungen wie beispielsweise interzerebraler Blutungen. Ca. 20–30 % der RIBI-Patienten stehen also bislang ohne wirksame Behandlung da.
In einer Phase-II-Studie untersuchten die Forscher nun die Effizienz von Thalidomid bei dieser Patientengruppe. In die einarmige Studie wurden 58 RIBI-Patienten eingeschlossen, die sich zuvor einer Radiotherapie wegen eines Nasopharynxkarzinoms unterzogen hatten und bei denen eine Therapie mit Bevacizumab oder Kortikosteroiden nicht angeschlagen hatte oder wegen Kontraindikationen nicht möglich war. Die Studienteilnehmer waren zwischen 27 und 68 Jahre alt (Median 50) und überwiegend männlichen Geschlechts (74,1 %). Die Probanden erhielten zu Beginn 25 mg Thalidomid täglich, wobei die Dosis jede weitere Woche um 25 mg erhöht wurde auf maximal 100 mg pro Tag. Die Therapie dauerte insgesamt 15 Wochen oder bis zur Verbesserung der Krankheit, dem Behandlungsabbruch durch den Patienten oder dem Auftreten inakzeptabler toxischer Effekte.
Der primäre Endpunkt war dabei das Ansprechen auf die Therapie nach 15 Wochen, definiert als eine mindestens 25%-ige Volumenreduktion der zerebralen Ödeme im FLAIR-MRT. Dieser wurde auch von 27 der 58 Patienten erreicht – eine Ansprechrate von 46,6 % (95 % CI 33,3–60,1 %). Auch in Hinblick auf sekundäre Outcomes konnten die Forscher erfreuliche Ergebnisse vermelden: 43,1 % (25 Patienten) erreichten Verbesserungen ihres LENT/SOMA-Scores, 62,1 % (36 Patienten) zeigten kognitive Verbesserungen im Vergleich zu Therapiebeginn.
Unerwünschte Ereignisse traten bei 58,6 % der Patienten auf (34 Patienten), die meisten darunter leicht bis moderat. Am häufigsten kam es zu Obstipation (24,2 %), Schwindel (15,5 %) und allergischen Reaktionen (12,1%). Bei einem Patient wurde eine milde Sinusbradykardie festgestellt, die sich eine Woche nach Absetzen des Thalidomids wieder legte. Ein schwerwiegendes Ereignis trat in Form eines Schlaganfalls auf, den ein Patient mit einer Vorgeschichte von Bluthochdruck und Dyslipidämie nach 33 Tagen der Behandlung erlitt. Alles in allem sind die Autoren jedoch positiv gestimmt: „Diese Ergebnisse weisen darauf hin, dass Thalidomid effektiv und sicher für die Behandlung von RIBI ist.“
Die Forscher beließen es nicht nur bei einer Einschätzung der Effektivität, sondern versuchten auch zu ergründen, wie die Wirkung des Thalidomids zustande kommt. Bei einigen Patienten, die sich zu zusätzlichen MRI-Untersuchungen zu Beginn und Ende des Beobachtungszeitraums bereit erklärtet hatten, konnte festgestellt werden, dass die Thalidomid-Therapie die zerebrale Durchblutung förderte und Permeabilität der Blut-Hirn-Schranke verringerte. Zusätzliche Untersuchungen in einem Mausmodell für RIBI unterstützten diese Befunde. Hier konnten die Forscher feststellen, dass die Expression des PDGF-Rezeptors b verstärkt wurde und die Funktion der Perizyten gerettet werden konnte. So konnten die durch die Strahlung verursachten Schäden an der Blut-Hirn-Schranke wieder ausgeglichen werden.
„Unsere Daten demonstrieren daher das therapeutische Potential von Thalidomid für die Behandlung strahlungsinduzierter Beeinträchtigungen des zerebralen Gefäßsystems“, schließen die Autoren. Allerdings sollte bei der Einschätzung nicht vergessen werden, dass es sich lediglich um eine einarmige Phase-II-Studie mit einer geringen Anzahl Probanden handelt. Die Erkenntnisse aus dem Mausmodell lassen sich ebenfalls nur bedingt auf den Menschen übertragen. Um die langfristige Effektivität und Sicherheit von Thalidomid zur RIBI-Behandlung bewerten zu können, sind ohne Frage noch größere, multizentrische RCT mit einem längerem Follow-up nötig.
Cheng et. Al., A phase II study of thalidomide for the treatment of radiation-induced blood-brain barrier injury. Sci. Transl. Med. 15 (2023). DOI: 10.1126/scitranslmed.abm6543
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