In den ersten sechs Lebensmonaten sollten Babys ausschließlich gestillt werden – das empfiehlt die WHO. Doch nur 13 % der Frauen folgen diesem Rat. Woran liegt’s?
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Eigentlich handelt es sich um die natürlichste Sache der Welt: Die enge körperliche Beziehung zwischen Mutter und Kind in der Schwangerschaft endet nicht schlagartig mit der Geburt, sondern setzt sich u. a. beim Stillen fort. Muttermilch ist nahrungstechnisch optimal und der enge Körperkontakt tut beiden gut. Weder ist ein besonderes Equipment erforderlich, wie bei der Flaschenernährung, noch entstehen Kosten. Warum lassen sich dann nicht mehr Frauen auf dieses einmalige Erlebnis ein oder brechen es vorzeitig ab?
Die aktuellen Stillquoten für Deutschland sind düster: Zwei Drittel (68 %) der Mütter stillen ihre Kinder nach der Geburt ausschließlich, nach zwei Monaten sind es noch 57 %. Nach vier Monaten werden nur noch 40 % der Kinder voll gestillt, nach sechs Monaten 13 %.
Eine qualitative Zielgruppenanalyse kam außerdem zu dem Ergebnis, dass Frauen in psychosozial und materiell belasteten Lebenslagen seltener und kürzer stillen. Bisher gibt es kein tiefergehendes Verständnis für die dahinterliegenden Ursachen und Motive. Bei der Zuordnung zum Bildungsstatus fand man nach vier Monaten in 21 % der Fälle voll gestillte Kinder bei Müttern mit einfacher Bildung, bei mittlerer Bildung 35 % und 50 % bei Kindern, deren Mütter über einen hohen Bildungsstatus verfügten.
Bei Müttern in belasteten Lebenssituationen scheinen Stillerfahrungen eher negativ belegt und mit Stress und Selbstaufgabe assoziiert zu sein. Es wird eine mangelnde Stillvorbereitung angegeben und der gesellschaftliche Druck zum Stillen stehe im Widerspruch zum nicht akzeptierten Stillen in der Öffentlichkeit. Eine psychosozial weniger belastete Vergleichsgruppe war hingegen besser informiert und zeigte sich souveräner im Umgang mit Stillschwierigkeiten oder Stillen in der Öffentlichkeit. Dabei ist Muttermilch allen Ersatzprodukten (Formula-Nahrung) aus vielen Gründen überlegen.
Prof. Regina Ensenauer, Leiterin des Instituts für Kinderernährung in Karlsruhe und Vorsitzende der Nationalen Stillkommission, bezeichnet Muttermilch als unersetzbar: „Muttermilch ist einfach einzigartig. Landläufig bekannt ist mittlerweile, dass Muttermilch maßgeblich die Immunstärke und den Aufbau des Immunsystems des Kindes positiv beeinflusst. […] Die Muttermilch passt sich zudem den verschiedenen Reifungsphasen des Kindes an. Die Zusammensetzung verändert sich. Diese individuelle Beschaffenheit der Muttermilch lässt sich nicht künstlich erzeugen.“
Derzeit untersucht sie in einer Studie, wie Frauen mit einem hohen BMI, die eher Stillprobleme und kurze Stillphasen zeigen würden, verstärkt für das Stillen gewonnen werden können. Eine S3-Leitlinie sei in der Mache, die von Hebammen, Ernährungswissenschaftlern und Ärzten gemeinsam verfasst wird.
Prof. Daniela Karall, stellvertretende Direktorin für Kinder- und Jugendheilkunde an der Uniklinik Innsbruck, sieht in der Muttermilch den Goldstandard, an dem sich alle Ersatzprodukte messen müssen. „Schon auf dem Plakat des Deutschen Hebammen-Verbandes sieht man rein optisch, dass humane Milch sehr viel mehr Inhaltstoffe hat als Formula. Dort heißt es richtigerweise, dass Muttermilch und Formula-Nahrung auch im Zeitalter modernster Herstellungsverfahren nicht gleichwertig seien, auch wenn Werbung und Industrie uns dies manchmal glauben machen möchten. Die wissenschaftliche Evidenz für die gesundheitlichen Vorteile von Muttermilch ist sehr gut.“
Diese Ansicht vertritt auch Prof. Mathilde Kersting, Leiterin des Forschungsdepartment Kinderernährung. Bei der Formula-Milch handelt es sich um Tiermilch, die der Muttermilch angenähert wird. Damit können Kinder ernährt werden, was sicher ein Fortschritt ist. „Aber die bioaktiven Substanzen der Muttermilch, die zum Beispiel Magen-Darm-Infektionen vorbeugen können und bei der Prägung des Immunsystems helfen, können bisher nicht nachgeahmt werden. Das wird wohl so auch nie gelingen. Das ganze Wunderwerk Muttermilch ist nicht nachahmbar.“ Kinder, die gestillt werden, würden eine viel größere geschmackliche Variation erhalten als Kinder, die mit Ersatzprodukten ernährt werden – und deshalb später variantenreicher essen.
Die Hälfte der Mütter hätte bei ihren Beobachtungen in den ersten 14 Tagen nach der Geburt Stillprobleme – wie wunde Brustwarzen oder zu wenig Milch. Gerade hier wird mehr Potential bei der Information und Anleitung der Mütter gesehen. Das Kind wird im Mutterleib kontinuierlich ernährt, danach muss es plötzlich aktiv versorgt werden und das rund um die Uhr. Das sei vielen Eltern nicht klar, deshalb komme den Geburtskliniken eine Schlüsselrolle in der praktischen Stillanleitung zu, meint Kersting. Aber auch die ambulante Nachsorge sei sehr wichtig, da viele Frauen bereits kurz nach der Geburt wieder nach Hause gehen. Die volle Milchbildung setzt erst nach zwei bis drei Tagen ein, zuvor gibt es das vor allem immunologisch wertvolle Kolostrum. Hier stehen Stillberaterinnen und Hebammen für eine professionelle Anleitung an erster Stelle. Eine gute Option sieht Kersting zusätzlich in Stillambulanzen der Geburtskliniken. Sie plädiert dafür, dass die Zufütterung von Neugeborenen nur auf ärztliche Indikation erfolgen solle.
Jule Heike Michel, Bundesbeauftragte für Stillen und Ernährung und selbst Hebamme und Stillberaterin, vergleicht Muttermilch mit einem vollwertigen Menü mit Superfoods aus Bio-Lebensmitteln. Menschen könnten sich zwar auch größtenteils mit industriell verarbeiteten Lebensmitteln ernähren, nur weiß man mittlerweile, dass ein solcher Ernährungsstil langfristig negative gesundheitliche Konsequenzen verursacht. „In einer typischen Formula-Nahrung müssen rund 40 Inhaltsstoffe zu finden sein. Frauenmilch hingegen ist ein einzigartiges bioaktives Lebensmittel, das über 400 unterschiedliche Inhaltsstoffe aufweist und in einem Tropfen Muttermilch bereits ungefähr 4.000 lebende Zellen enthält.“
Das Risiko für plötzlichen Kindstod, Darmentzündungen bei Frühgeborenen und Infektionen der Atemwege und des HNO-Bereichs sei bei voll gestillten Kindern geringer. Aus Langzeitstudien wisse man, so Michel, dass mit Ersatzprodukten ernährte Kinder später eher an Adipositas, Typ-2-Diabetes, Hypertonie und chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen leiden würden. Auch für die Mütter bringe Stillen viele Vorteile: Die Gebärmutter bildet sich rascher zurück und das Risiko für Krebserkrankungen, wie etwa ein Mammakarzinom, sinkt. Das Reaktionsverhalten gegenüber dem Kind sei höher und eine sichere Bindung werde gefördert.
Global gesehen sichert Stillen in Katastrophensituationen oder bei Engpässen in den Lieferketten die Ernährung Neugeborener. Unter schwierigen hygienischen Verhältnissen ist Stillen einfacher als die Zubereitung von Ersatzprodukten. Stillen ist klimafreundlich, denn es fallen Wasser und Energieaufwand für Produktion und Verpackung weg.
Bei den Ersatzprodukten handle es sich um einen „lukrativen und heiß umkämpften Markt“, so Michel. Der weltweite Umsatz mit kommerziellen Milchersatzprodukten beläuft sich auf etwa 55 Milliarden US-Dollar pro Jahr. Da es sich meist um multinationale Konzerne handle, gäbe es keine verlässlichen Zahlen für Deutschland. Eine dreiteilige Review-Serie in The Lancet (Teil 1, Teil 2, Teil 3) rügt das digitale Marketing von aus der Industrie bezahlten Influencern. Diese berichten über Stilprobleme, ermöglichen dabei Produktplatzierungen und bieten kostenlose Proben an, wodurch der Online-Verkauf gefördert würde.
Die Säuglingsernährung werde kommerzialisiert, Markentreue gestärkt und die Gesetzgebung umgangen, die Werbung für Säuglingsnahrung beschränkt. Der WHO-Kodex verbietet unter anderem, dass zur Verkaufsförderung von Formula Mütter vom Stillen abgehalten werden.
„Eine ideale Situation wäre aus meiner Sicht gegeben, wenn gesunder Lebensstil und Kochen ein durchgehendes Pflichtfach in der Schulausbildung würde, wie Mathematik und Deutsch auch“, schlägt Michel als Bundesbeauftrage für Stillen und Ernährung vor.
Aus ihrer Sicht sollten Qualitätsstandards für die Fachleute, die junge Familien beraten, etabliert werden. Die Versorgung mit Formula, Flaschen und Saugern sollte wie bei verschreibungspflichtigen Medikamenten gestaltet werden. Dies könnte über eine Preisbindung durch Apotheken oder Gesundheitsämter erfolgen, die gleichzeitig kompetente Still- und Ernährungsberatung anbieten würden. Dadurch würde sich der Anreiz für die Industrie, Formula samt Zubehör direkt oder indirekt an Familien und Fachpersonal zu vermarkten, drastisch verringern.
Ausschließliches Stillen bis zur Vollendung des sechsten Lebensmonats wird aus guten Gründen von der WHO empfohlen. Bereits in den ersten Stunden nach der Geburt trägt Stillen zum Bonding wesentlich bei. Ernährung durch Muttermilchersatzprodukte sollte Ausnahmesituationen vorbehalten sein.
Für gesunde Ernährung, einschließlich Stillen, bereits im Schulunterricht zu werben, wäre ein sinnvoller Ansatz. Daran anknüpfen können alle Dienstleister im Gesundheitswesen, die mit Schwangeren in Berührung kommen. Einen großen Stellenwert nehmen Hebammen, Stillberaterinnen und die Geburtskliniken ein. Weiterhin sollte in gynäkologischen und pädiatrischen Praxen, in Gesundheits- und Sozialämtern, aber auch in Apotheken das ausschließliche Stillen in den ersten sechs Lebensmonaten aktiv beworben werden. Moderne mediale Plattformen könnten dabei unterstützend wirken.
Stillen in der Öffentlichkeit dürfte keine Tabuzone mehr sein. Warum sich mit weniger zufrieden geben, wenn das Beste offensichtlich ist?
Bildquelle: Dave Clubb, unsplash