Plötzliche Ticks – sie treten auf, nachdem Teenager Videos in sozialen Medien sehen, in denen Symptome des Tourette-Syndroms inszeniert werden. Was ist dran, an dem Phänomen?
Aidans Ticks brachen Anfang 2021 aus, etwa einen Monat nach Ende des Lockdowns: Als der 16-jährige Teenie von der Schule nach Hause kam, verkrampfte er sich – sein Kopf schnappte hin und her, die Arme schwangen wild und manchmal stieß er schrille Pfeife und „Whoops“-Geräusche aus. Aidans Eltern waren sehr besorgt. „Es geschah vor unseren Augen“, erinnert sich Aidans Mutter Rhonda. „Es sah aus, als würde Aidan verrückt werden.“ Sie brachte Aidan in die Notaufnahme, doch die Ärzte fanden nichts.
Fälle wie den von Aidan, geschildert in der New York Times, treten seit der Pandemie immer häufiger auf. Ärzte behandeln weltweit tausende junge Menschen wegen plötzlichen auftretenden Ticks. Viele der Betroffenen hatten sich beliebte TikTok- oder YouTube-Videos von Teenagern wie Dillan White oder Jan Zimmermann angesehen, bei denen das Tourette-Syndrom diagnostiziert wurde. Seitdem landen die TikTok-Ticks immer wieder in den Schlagzeilen. Wissenschaftler beschreiben das als eine „Pandemie innerhalb der Pandemie“. Ist die Situation tatsächlich so dramatisch, wie sie klingt?
Anders als bei White oder Zimmermann handelt es sich bei den TikTok-Ticks nicht um das Tourette-Syndrom, sondern um eine funktionelle bzw. Tick-ähnliche Störung. „Die Unterscheidung beider Symptomkomplexe ist auf den ersten Blick nicht einfach“, erklärt Dr. Ahmed El-Kordi, psychologischer Psychotherapeut und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut, auf Anfrage der DocCheck News. „Daher sollte eine Zuordnung nur durch Fachleute erfolgen.“ Die Tourette-Störung ist eine neuro-psychiatrische Erkrankung. Laut dem Psychotherapeuten trete sie für gewöhnlich in jungen Jahren und häufiger bei Jungen auf; dagegen seien in der Mehrzahl junge Frauen von einer funktionellen Störung betroffen.
Die Entwicklung der Ticks zeige sich in der Regel in einfachem Räuspern, Pfeifen, Grimassieren, Blinzeln oder auch durch Schulterzucken sowie komplexe oder multiple Zisch- und Grunzlaute, Hüpfen, Klatschen oder Kratzen, so El-Kordi. Die Ticks im Sinne einer funktionellen neurologischen Störung treten meist „von heute auf morgen“ abrupt auf, dagegen sei bei Tourette ein gradueller Beginn erkennbar. Das Tourette-Syndrom weist eine rostrokaudale Entwicklung mit einfachen motorischen Ticks am Kopf, Nacken, Gesicht und weiterer Verbreitung an anderen Körperteilen auf. „Koprolallie und Kopropraxie sind Sonderformen und kommen zwar vor, allerdings nicht zu dem Grad, wie es in einigen YouTube-Videos dargestellt wird“, führt der Psychologe weiter aus.
Bei der Tick-Störung sehe man kaum Fluktuation über die Zeit, was hingegen bei Tourette der Fall sei, erklärt El-Kordi. Die Tick-Störung sei auch kontextabhängig – häufig legen psychische Komorbiditäten wie Angststörungen und Depression vor; beim Tourette-Syndrom eher ADHS und Zwangsstörungen. Zudem hängen die Entwicklung der Ticks mit der Situation der Betroffenen zusammen und werden dadurch befeuert, wie etwa durch pandemiebedingte Isolation, Home-Schooling und familiäre Stressoren, so der Psychologe. „Wichtiger, spezifischer Auslöser ist das Schauen von Tick-ähnlichen Verhaltensweisen in sozialen Medien.“
„Dieses Phänomen ist nicht neu“, merkt El-Kordi an. „Bereits Charcot und Freud haben sich mit diesem Phänomen, was früher als ‚Hysterie‘ oder ‚Konversionsstörung‘ bezeichnet wurde, befasst.“ Ein ähnliches, lokal begrenztes Phänomen gab es bereits 2011: In Le Roy, einer kleinen US-amerikanischen Stadt im Westen von New York, brach eine Cheerleaderin in der örtlichen High School in einen Krampfanfall aus. Ein paar Wochen später litt ihre beste Freundin an ähnlichen Symptomen – unkontrolliertes Stottern, Zucken der Gesichtsmuskeln und Kopfbewegungen. Die Ticks verbreiteten sich schnell in der Schule und betrafen 18 Mädchen, einen Jungen und eine erwachsene Frau. Medien spekulierten über Kontaminationen mit möglichen Toxinen oder Viren. Doch die Neurologen, die die Patienten behandelten, wussten, dass viele der Betroffenen Traumata oder schwere Krankheiten innerhalb der Familien erlebt hatten.
Obwohl solche Phänomene im Laufe der Geschichte häufig – etwa auf bestimmte Orte beschränkt – aufgetreten sind, haben soziale Medien zumindest diese geographischen Grenzen aufgelöst. Das interessante und ungewöhnliche daran sei, die mediale Ansteckung bzw. der nachgewiesene Zusammenhang zwischen Abruf von entsprechenden Videos in den sozialen Medien und dem Vorkommen solcher Beschwerden, sagt El-Kordi. „Dies führte zur Bezeichnung ‚Mass Social Media-Induced Illness‘.“
Der Psychotherapeut hatte in seiner Praxis drei Fälle von Betroffenen mit Ticks. Einer der Patienten hatte beispielsweise eine bekannte Vorgeschichte mit Zwangsstörungen – diese wurden durch die YouTube-Videos verstärkt. „Bei dem Fall mit den Zwangsstörungen hatten wir einen sehr guten Verlauf – auch durch massive Reduktion bzw. bis hin zum Verzicht auf entsprechende YouTube-Kanäle.“ Er führt in diesem Rahmen auf, dass auch falsche Informationen und Behauptungen über einige Social-Media-Kanäle verbreitet werden.
Er stieß bei den anderen beiden Fällen auf Unverständnis und Enttäuschung, als er die Verdachtsdiagnose mitteilte. Die Symptome in einem Fall seien derart ungewöhnlich gewesen – Vollstreckung des Oberkörpers mit Streckung des rechten Armes nach oben und ruckartige Bewegung des Kopfes nach hinten –, dass er schnell eine Tick-Störung im engeren Sinne ausschließen konnte. „Die Angabe, dass die Patientin sich auch ‚ähnliche Fälle online und über Insta‘ angeschaut habe und ‚alle sagen, dass es Tourette ist‘, ergänzte meine Verdachtsdiagnose.“
Er wies beide Patienten auch darauf hin, dass er weitere psychopathologische Zustände – wie etwa depressive Verstimmung, hochgradige Schlafstörung und soziale Ängstlichkeit – für interventionsbedürftig hielt, jedoch wurde das auf Patientenseite nicht akzeptiert. Viele Betroffene fühlen sich nicht ernst genommen und bekommen durch Begriffe wie Tick-ähnliche Störung den Eindruck, man würde ihnen unterstellen, Symptome zu erfinden oder zu simulieren, sagt El-Kordi. Das sei aber nicht der Fall. „Die Betroffenen sind tatsächlich in großer Not und benötigen professionelle Interventionen – sie leiden allerdings nicht unter Tourette-Syndrom.“
El-Kordi betrachtet die Zunahme von Kanälen, die Fehlinformationen zu psychischen Themen verbreiten, sehr kritisch. „Unabhängig von der gezeigten Symptomatik erlebe ich oft, dass Social Media einfache Antworten auf komplexe emotionale Zustände liefert.“ Er meint damit nicht nur die gestellten Diagnosen, sondern auch subklinische Formen, die man keiner Diagnose zuordnen kann. „Wir haben eine paradoxe Lage: Auf der einen Seite haben Verständnis und Akzeptanz von psychischen Störungen zugenommen, gleichzeitig fehlt ein Verständnis für menschliche Bedürfnisse.“ Individuelle, nachvollziehbare Bedürfnisse und Anforderungen würden erst mehrheitlich akzeptiert, wenn darüber als Überschrift eine Diagnose stünde, sagt El-Kordi. „Erst wenn eine Diagnose da ist, wird das subjektive Leiden – mehr oder weniger – ernst genommen.“
Spezifische Social-Media-Kanäle über psychische Gesundheit liefern laut El-Kordi über Influencer eine akzeptierte Lösung: Das, was du fühlst, kenn ich auch! Und: Es hat einen Namen. Das sei eine gefährliche Entwicklung, denn für einige ist die Nicht-Bejahung einer Diagnose ein Nicht-Ernst-Nehmen ihrer Bedürfnisse, merkt der Psychotherapeut an. Das könne auch zu Mode- und Pseudodiagnosen führen. „Es werden menschliche und nachvollziehbare emotionale Zustände pathologisiert.“ Er betont aber, dass soziale Medien auch ihre Vorteile haben: Entstigmatisierung und Normalisierung von psychischen Erkrankungen. Das sei wichtig, denn die beschriebenen TikTok-Ticks seien eine etablierte Störungskategorie und keine Modeerscheinung. Die Lage sei also komplex, aber stemmbar. Denn, wie auch El-Kordis Praxisbeispiele zeigen, sind diese TikTok-Ticks therapierbar.
Bildquelle: Fatma Sarıgül, Unsplash