Wer schlecht sieht, wenig beweglich ist und langsam reagiert, sollte kein Auto fahren – oder? Was ihr tun könnt, wenn eure Patienten nicht mehr ans Steuer sollten.
Laut Untersuchungen gelten Männer zwischen 25 und 35 als größte Risikogruppe für Unfälle im Straßenverkehr mit Personenschäden. Personen ab 65 sind, gemessen an ihrem Anteil in der Gesamtbevölkerung (22,1 Prozent), seltener daran beteiligt (14,5 Prozent). Allerdings, so betont das Statistische Bundesamt, hätten ältere Menschen als Pkw-Fahrer mit Unfallbeteiligung häufiger die Hauptschuld als jüngere, nämlich bei 68,2 Prozent der Fälle. In der Gruppe ab 75 waren es sogar 75,9 Prozent. Ob es, wie Statistiker vermuten, an der mangelnden Routine liegt, oder eher an nachlassenden Sinnen sowie an Erkrankungen, bleibt unklar.
Solche Zahlen befeuern die Frage, ob regelmäßige Untersuchungen der Fahrtauglichkeit Sinn machen. Ein Blick über die Grenzen: Der Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft hat Informationen aus europäischen Ländern gesammelt. Viele Nationen setzen auf erneute Überprüfungen jenseits gewisser Altersgrenzen. Teilweise müssen Senioren zum Arzt, teilweise füllen Sie Fragebögen aus. Österreich, Belgien, Frankreich – und Deutschland – sträuben sich dagegen, oft mit Hinweis auf den fehlenden Nutzen solcher Screenings.
Doch die Wissenschaft belehrt sie eines Besseren. Im Journal of the American Geriatrics berichten Forscher über Erfahrungen aus Japan. Sie analysierten polizeilich gemeldete Daten zu Unfällen. Seit März 2017 müssen Fahrer ab 75 Jahren vor der Erneuerung ihres Führerscheins einen Arzt aufsuchen. Findet er Anzeichen auf eine Demenz, kann der Führerschein zeitweilig oder dauerhaft entzogen werden. Weitere Untersuchungen werden jedoch nicht durchgeführt.
Zwischen 2012 und 2019 kam es zu insgesamt 602.885 Kollisionen, an denen Autofahrer ab 70 beteiligt waren. Hinzu kamen in der Altersgruppe 196.889 Unfälle von Fahrradfahrern oder Fußgängern mit Verletzungen.
Nach den gesetzlichen Änderungen von 2017 hat sich die Zahl an Kollisionen stark verringert. Verglichen mit früheren Zeiträumen waren es zwischen März 2017 und Dezember 2019 insgesamt 3.670 weniger Unfälle als erwartet (95 Prozent Konfidenzintervall, 2.104 bis 5.125 Unfälle weniger). Besonders bei Männern war der Effekt ausgeprägt. Viele Frauen in dem Alter hatten nie eine Fahrerlaubnis oder fahren schon länger nicht mehr selbst. Zeitgleich erhöhten sich bei Fußgängern und Fahrradfahrern die Unfälle um 959 Fälle (95 Prozent Konfidenzintervall, 24 bis 1.834 Fälle mehr). Die Ergebnisse sprächen für Untersuchungen von Autofahrern, aber auch für mehr Schutz vulnerabler Gruppen, kommentieren die Autoren.
Doch wie beurteilen Health Professionals die Lage? DocCheck hat bei der Community nachgefragt.
„Wenn diese Maßnahmen, wie in der japanischen Studie ermittelt, zu einer signifikanten Verminderung schwerer Unfälle führen können, ist nicht nachvollziehbar, warum sie nicht eingeführt werden“, schreibt eine Kollegin. Sie selbst kenne Senioren, die nicht bereit seien, ihr „Recht auf Unabhängigkeit“ zu überdenken, etwa nach einem Schlaganfall oder aufgrund von Gesichtsfeldeinschränkungen.
Hinzu kommt die demographische Entwicklung. „Die Zahl der Senioren auf den Straßen wird deutlich zunehmen, und damit auch leider die Zahl der nicht mehr fahrtüchtigen Senioren“, schreibt eine Ärztin. Ihr Rat: „Zunächst sollte man eine bessere statistische Auswertung diesbezüglich anstreben, da keine politische Partei so etwas gerne durchsetzen möchte.“ Sie verweist auf Erfahrungen aus der Schweiz. Dort müssen Menschen über 75 alle zwei Jahre zum ärztlichen Check – als Selbstzahler-Leistung.
„Ich denke, dass es zum Beispiel ab 70 oder 75 Jahre alle ein oder zwei Jahre eine Art Führerschein-Prüfung inklusive eines ärztlichen Gutachtens zur Gesundheit und Fahrtauglichkeit geben sollte“, schreibt ein Kollege.
Gesellschaftliche Kontroversen um solche Tests können nicht alle Community-Mitglieder nachvollziehen. „Wo ist das Problem? Wer tauglich ist, hat nichts zu befürchten und darf auch mit 90 noch fahren.“ Ansonsten gehöre man nicht mehr in den Straßenverkehr, heißt es in einem weiteren Posting.
Schön und gut. Nur ist Deutschland nicht so weit, über verpflichtende Tests nachzudenken. Welche Möglichkeiten bleiben Ärzten bei nicht fahrtüchtigen, uneinsichtigen Patienten? „Als ich noch berufstätig war, habe ich mehrmals versucht, Autofahrer aus dem Verkehr ziehen zu lassen“, berichtet ein Intensivmediziner in Rente. „Es ist mir nicht geglückt.“
Ein Kollege befürwortet Tests beim Hausarzt und ergänzt, die fehlende Eignung zum Führen eines Fahrzeugs, Bootes, oder Flugzeugs sollte stets an die Behörde weitergegeben werden. Daran scheiden sich die Geister. „Eine Meldepflicht würde das Arzt-Patienten-Verhältnis infrage stellen; nicht umsonst ist die Schweigepflicht was sehr Entscheidendes“, konstatiert eine Psychotherapeutin. Ausnahmen stehen beispielsweise in der Berufsordnung, § 9: „Ärztinnen und Ärzte sind zur Offenbarung befugt, […] soweit die Offenbarung zum Schutze eines höherwertigen Rechtsgutes erforderlich ist.“ Im Strafgesetzbuch (StGB), § 34, wiederum hat der rechtfertigende Notstand Bedeutung. Er wägt verschiedene Rechtsgüter gegeneinander ab.
Juristen des deutschen Verkehrsgerichtstags sind laut aktueller Stellungnahme gegen verpflichtende Meldungen aus Praxen. „Bei begründetem Verdacht auf fehlende Fahreignung und nach Ausschöpfung therapeutischer und beratender Optionen soll eine Mitteilung an die Fahrerlaubnisbehörde zulässig sein“, so ihre Forderung. Um bei Meldungen für mehr Rechtssicherheit zu sorgen, liegt es am Gesetzgeber, medizinische Voraussetzungen zu definieren.
„Vorrangig sollen jedoch niedrigschwellige Angebote zum Erhalt der Fahreignung und zu alternativer Mobilität in größerem Umfang etabliert und beworben werden“, schreiben Experten des Verkehrsgerichtstags weiter. Das klingt gut, ist aber leichter gesagt als getan. Gezielte Reha-Programme zur Verbesserung beziehungsweise zum Erhalt der Fahrtauglichkeit gibt es nämlich nicht. Und wer in ländlichen Gegenden wohnt, kann sich mit viel Glück über zwei bis drei Busverbindungen pro Tag freuen. Ohne Auto wird es vielerorts also schwierig.
Bildquelle: Preston Browning, Unsplash