Ich sitze mit Kollegen in der Sanitätsstation zusammen, die Stimmung ist gut. Ein Mann mit Wespenstich fragt nach einer Kühlkompresse. Noch ahne ich nicht, dass ich diesen Einsatz nie vergessen werde.
Unser alljährliches Volksfest ist nicht nur für Familien ein großer Spaß. Auch die Besatzungen des örtlichen Rettungsdienstes treffen sich dort regelmäßig, um zu quatschen und sich mal etwas zu essen zu holen.
Die Stimmung war ausgelassen an diesem Tag mitten im August, an dem die Luft vor Hitze flimmerte und es nach gebrannten Erdnüssen und erhitztem Asphalt roch. Auf dem Volksfestplatz drängelten sich die Besucher unter wolkenfreien Himmel zwischen Fahrgeschäften, Essensbuden und einem Riesenrad. Etwas am Rand des Trubels traf ich diesmal mit meinem Kollegen nicht nur auf die Leute von der Sanitätsabsicherung, auch Notärztin Dr. Blume und Rettungssanitäter Peter waren dort. Sie waren an diesem Tag als NEF-Besatzung für den Dienst eingeteilt.
Irgendwann klopfte es an der Tür. Ein Mittzwanziger, nennen wir ihn Michael, betrat den Raum des Sanitätsdienstes. „Ich bräuchte nur schnell etwas zum Kühlen“, sagte er und wollte so schnell wie möglich wieder gehen. Dreißig Minuten zuvor war Michael von einer Wespe in den linken Oberarm gestochen worden. Es war bereits eine lokale Schwellung zu sehen. Eine Kollegin des Sanitätsdienstes holte eine Kältekompresse aus dem Kühlschrank, wickelte sie in ein Papierhandtuch und reichte sie Michael.
Dr. Blume legte die Gabel beiseite. „Darf ich mal sehen?“, fragte sie und betrachtete die Schwellung. „Ich schlage vor, Ihnen prophylaktisch auch Cortison zu spritzen. Damit sollten Sie durch diesen Stich auf jeden Fall keine Probleme bekommen.“ Michael willigte ein. Er war ein gesunder Mann, litt an keinen Vorerkrankungen, die bei Cortisongabe problematisch wären, und verneinte Allergien auf Medikamente. Auch eine Wespengift-Allergie war bislang nicht bekannt.
Michael setzte sich auf die Krankenliege eines Abteils und krempelte den Ärmel hoch. Durch den Stauschlauch traten seine Venen hervor. Dr. Blume aspirierte Blut, löste den Stauschlauch und drückte den Kolben in den Spritzenkörper. „Das wars“, sagte sie und hatte die Worte noch nicht ganz ausgesprochen, als Michael sich plötzlich an die Brust griff. Ihm werde auf einmal so heiß, er kriege schlecht Luft, er könne nicht atmen – was denn los sei und was denn das für ein Medikament war.
Wir ließen unser Besteck fallen. Dr. Blume drückte den Mann zurück auf die Liege. Wie wir wirkte sie überfahren und schien nicht zu wissen, was sie als Erstes tun sollte. Von jetzt auf gleich hatten wir es scheinbar mit einer akut lebensbedrohlichen Notfallsituation zu tun. Aber mit welcher? Was war das Problem?
Michaels Haut war zunächst milchweiß. Dann bekam er rote Flecken im Gesicht, am Hals und an den Armen und nach zwei weiteren Minuten war seine Haut in der Farbe seiner Lippen gefärbt. Ein derartiges Flush-Phänomen kannte ich bis zu diesem Zeitpunkt nur aus einer Richtung – nämlich dann, wenn der Patient eine massive anaphylaktische Reaktion erlitt. Das schien hier der Fall zu sein und zwar durch einen Stoff, bei dem ich es niemals für möglich gehalten hätte.
Anfangs konnte Michael noch sprechen, aber sein Lippenvolumen nahm zu und das Gewebe um die Augen schwoll an. Auch die Ohren verdickten sich. Die Zunge schwoll immer weiter an. Das Blutdruckmanometer zeigte zunächst einen Wert über 150 zu 85, die Herzfrequenz lag erhöht bei 110 Schlägen pro Minute.
Dann ging alles sehr schnell.
Innerhalb einiger Minuten lag der Druck nur noch bei 70 zu 40, die Herzfrequenz stieg auf über 130 an. Wie der Venenstatus aussah, könnt ihr euch sicher vorstellen. Dr. Blume hatte das Cortison anstelle mittels einer Verweilkanüle standardmäßig durch eine Injektionskanüle appliziert, wir hatten somit zunächst keinen intravenösen Zugang. Ein IO-Bohrer stand uns zu dem Zeitpunkt nicht zur Verfügung, aber die Punktion klappte im Bereich der Vena jugularis externa. Die Versorgung erfolgte auch für damalige Verhältnisse leitliniengerecht: 0,5 mg Adrenalin durch die Jeans in den Oberschenkel, 8 mg Dimetinden, Vernebeln von Adrenalin über einen Inhalationsvernebler mittels High-Flow-Sauerstoff. Später fand noch ein Perfusor seinen Einsatz, den wir mit Noradrenalin beladen und zunächst auf 300 Mikrogram pro Stunde eingestellt hatten.
Irgendwann konnte Michael aufgrund der Schwellung nicht mehr atmen und wir waren nicht in der Lage, das Problem zu beheben. Der Tubus ging nicht rein, die Larynxmaske funktionierte nicht. Wir steuerten auf einen Cannot-Intubate-Cannot-Ventilate-Zustand zu. 15 Minuten später befanden wir uns inmitten einer Reanimationssituation, die von vornherein infaust schien. Ohne Sauerstoff hilft auch Adrenalin nichts mehr.
Michaels Herzrhythmus mündete in eine Asystolie. Wir mussten zusehen, Sauerstoff hineinzubekommen. Aber wie? Koniotomie? Ja, natürlich, aber hierfür benötigt man Routine, die niemand von uns hatte. Ein Kollege forderte zusätzliche Hilfe in der Leitstelle an, zum Beispiel in Form eines NEFs, das mit einem in der Koniotomie erfahrenen Arzt besetzt war. Ich muss euch nicht extra sagen, dass solche NEFs nicht im Überfluss irgendwo herumstehen und das Eintreffen eine gefühlte Ewigkeit gedauert hat.
Der Einsatz endete mit dem Tod Michaels in der Sanitätsstation 90 Minuten nach Eintritt einer Asystolie, die aus einer foudroyanten anaphylaktischen Reaktion auf ein glukokortikoides Präparat resultierte.
Ich zog einige Lehren aus diesem Tag:
Dann war er zu Ende, der Einsatz, der schicksalhafter nicht hätte verlaufen können. Auf dem Weg nach draußen zog ich am Griff der schweren Holztür zur Sanitätsstation und stieß mit einer jungen Frau zusammen, die je ein Kind mit schokoeisverschmiertem Mund an jeder Hand hielt. „Entschuldigung, mein Mann müsste bei Ihnen sein. Er wollte sich etwas gegen seinen Wespenstich holen, kommt aber einfach nicht wieder. Können Sie mir weiterhelfen?“
Ich sah sie an und fror. Einen Moment lang bewegten wir uns nicht, dann glitt ihr Blick an mir vorbei und sie bemerkte den Aufruhr in der Sanitätsstation. Sie ließ nicht ab, bis sie es an mir vorbei geschafft hatte. Ich wusste in diesem Moment, dass sich das Leben dieser jungen Familie schlagartig geändert hatte.
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