Jetzt habt ihr keine Wahl mehr: Die elektronische Patientenakte wird verpflichtend. Neben Ärzten und Patienten erhält auch die Industrie Zugriff. Hat der Minister an den Datenschutz gedacht oder überkommt uns ein Monstrum?
Was lange währt, wird endlich gut – so sagt der Volksmund. In Sachen Digitalisierung macht sich in der Ärzteschaft hingegen bereits Defätismus breit, der eben dieses gute Ende eher lähmen könnte. Heute hat Gesundheitsminister Karl Lauterbach seine lange angekündigte Digitalstrategie vorgelegt. Sie enthält Umsetzungsempfehlungen, die Grundlage zweier Gesetze werden sollen, deren erste Entwürfe „in den nächsten Wochen“ vorgelegt werden – ein Digitalgesetz und ein Gesundheitsdatennutzungsgesetz. Der Vorsitzende des Sachverständigenrats, Prof. Michael Hallek, hofft, dass damit der Enthusiasmus unter den Kollegen und in der Bevölkerung zu wecken ist. Ein Kernstück: Die erzwungene Durchsetzung einer 20 Jahre alten Idee.
Unter Gesundheitsministerin Ulla Schmidt brachte ein junger Herr Lauterbach seiner Zeit die Idee einer elektronischen Patientenakte (ePa) aus den USA mit nach Deutschland. Ein eher theoretischer Meilenstein seiner Zeit, von dem bis heute nur wenig zu sehen ist. Weniger als 1 Prozent der gesetzlich Versicherten haben die vor zwei Jahren eingeführte ePA bisher angelegt – und von denen, die sie angelegt haben, nutzen sie nur wenige aktiv.
Ein 3-Etappen-Plan soll das nun ändern und gleichzeitig das Silo-Wesen bei den deutschen Gesundheitsdaten beenden. Daten, die zusammengehören, sollen also zusammengeführt werden. Der Plan des Ministers sieht dabei vor, dass:
Die Zuversicht, die man in Berlin an den Tag legt, das hinzubekommen, was zwanzig Jahre lang offenbar nicht hinzubekommen war, beruht auf einer kleinen aber feinen Vorgehensänderung. Stichwort: Opt-out-Verfahren.
Hinter dem vielversprechenden Clou verbirgt sich das Vorhaben, allen GKV-Versicherten automatisch eine ePA anzulegen. Wer hiermit nicht einverstanden ist, muss dem Anlegen der elektronischen Akte wissentlich und willentlich widersprechen. Das passiert möglicherweise nur selten. Zumindest hätten in unserem Nachbarland Österreich, wo eine Opt-out-ePA existiert (wir berichteten), nur 3 Prozent widersprochen, so Lauterbach.
Gespeist werden soll die Akte aus den realen Versorgungsdaten der Leistungserbringer, sprich Arztpraxen, Krankenhäuser und andere Heilberufler. Die sollen dazu in gewissem Umfang verpflichtet werden, wobei hier noch viel unklar ist. Für die Forschung sollen ePA-Daten pseudonymisiert in das beim BfArM angesiedelte Forschungsdatenzentrum eingespielt und dort mit Daten anderen Quellen – zum Beispiel Krebsregister- und Genomdaten – verknüpft werden können. Auch hier gilt: Ein Opt-out für die, die das nicht wollen, ist möglich. Allerdings deutete Lauterbach auch an, dass der Forschung zu bestimmten epidemiologischen Fragestellungen nicht widersprochen werden kann.
Konkrete Vorteile für den medizinischen Alltag gebe es nach der Umsetzung laut Minister jede Menge. Der Gefahr von Überdosierungen und ungewollten Wechselwirkungen von Arzneimitteln könne man damit vorbeugen. Die Verfügbarkeit von Dokumentationen und die Weiterleitung von Vorbefunden könne damit garantiert werden. Daneben können Risikogruppen besser identifiziert werden und im Bedarfsfall bei Sicherheitsmaßnahmen priorisiert bedacht werden. So sei auf diesem Weg laut Minister die Sterblichkeitsrate an COVID-19 im Rahmen der israelischen Impfkampagne reduziert worden. Des Weiteren könnte Patienten mit bestimmten Erkrankungen die Teilnahme an passenden klinischen Studien mit digitaler Unterstützung und natürlich über den jeweils behandelnden Arzt empfohlen werden.
Einen weiteren großen Vorteil bietet die ePa für das Feld der Telemedizin. Auch dort gebe es künftig Zugriff auf die ePA-Daten, so Lauterbach. Dabei ist interessant, dass die Handlungsempfehlungen der Digitalstrategie einen Passus enthalten, wonach die bisherige Regelung, dass Ärzte nicht mehr als 30 Prozent ihres Umsatzes telemedizinisch erbringen dürfen, aufgehoben werden soll. Assistierte Telemedizin soll zudem auch in Apotheken oder Gesundheitskiosken angeboten werden. „Wir machen die Versorgung, Forschung und die Telemedizin besser. Gleichzeitig lösen wir so ein 20 Jahre altes Versprechen“, so Lauterbach.
Ein weiterer Nutznießer der Gesetze – insbesondere des Gesundheitsdatennutzungsgesetzes (GDNG) – wird derweil die Forschung sein. Nicht nur, dass es (im Forschungsdatenzentrum beim BfArM) dank ePA ein klares Mehr an Patienteninformationen und Daten geben soll, auch können diese zielgerichteter genutzt werden. Wissenschaftler, aber auch die forschende Industrie sollen Zugang erhalten.
Ändern sollen sich außerdem Strukturen und institutionelle Verantwortlichkeiten. So ist vorgesehen, das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) und den Bundesbeauftragten für den Datenschutz und die Informationsfreiheit (BfDI) von Institutionen mit Veto-Recht zu Beratungsinstanzen im Rahmen eines breiteren Entscheidungskollektivs zu machen. Das Veto soll also fallen, was allerdings in der Vergangenheit schon mal am Parlament gescheitert ist.
Die Gesellschaft für Telematik (gematik) wird zu einer Digitalagentur in 100 Prozent Trägerschaft des Bundes weiterentwickelt und in ihrer Handlungsfähigkeit gestärkt. Hier stellt sich die Frage, was die Umwandlung in eine Bundesagentur konkret bedeutet. Insbesondere mit Blick auf die Finanzierung der gematik, die bisher weitegehend aus Krankenkassengeldern erfolgt, sowie im Hinblick auf die umfangreichen Software-Zertifizierungen, die vor allem im ambulanten Gesundheitswesen üblich sind, bleiben Fragen offen. Die Zuständigkeit für die meisten Zertifizierungen liegt derzeit bei den KVen.
Beide Gesetze sollen neben ihren praktischen Vorteilen für die Gesundheitsversorgung in Deutschland den Forschungs- und Digitalisierungsstandort Deutschland wieder auf ein Level und einen Standard heben, den man in den vergangenen Jahren verloren hat. „Wir sind auf einen der letzten Plätze unter den westlichen Industrienationen und China abgerutscht. Wenn wir nichts ändern, werden wir zum Abwurfland für andere Nationen wie die USA, die dann teure amerikanische Produkte und Carepakete abwerfen. Dazu darf es nicht kommen und so wie es ist, darf es nicht bleiben“, konstatiert Hallek.
Der Gesundheitsminister ist sich derweil sicher, dass der Forschungsstandort Deutschland weiterhin – und vor dem Hintergrund der beiden Gesetze – attraktiv bleiben wird: „Deutschland ist ein gutes Forschungsland mit vielen Patienten und guter Wissenschaft. Das sind auch Gründe für Firmen, dem Standort eine Chance zu geben und sich hier anzusiedeln.“
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