„Jemand, der ein Telefonbuch auswendig lernen kann, schafft auch das Medizinstudium, aber wird noch lange kein guter Arzt“, fasst der Dekan einer Medizinischen Hochschule die NC-Misere zusammen. Ende 2019 müssen Auswahlkriterien, die es neben der Abinote gibt, neu geregelt sein.
Die bisher geltenden Vorschriften zur Zulassung zum Medizinstudium seien in Teilen mit dem Grundgesetz nicht vereinbar, entschied gestern der erste Senat des Bundesverfassungsgerichts (BVG) unter der Leitung von Richter Ferdinand Kirchhoff. Sie verletzten den Anspruch der Bewerber auf gleiche Teilhabe am staatlichen Studienangebot, hieß es in der gegen 10 Uhr 30 veröffentlichten Mitteilung. Zudem würden die Auswahlverfahren der Hochschulen nicht den gesetzlichen Vorgaben entsprechen. Die Karlsruher Richter fordern in ihrem Urteil gesetzliche Sicherungen dafür, dass die Hochschulen Eignungsprüfungen in standardisierten und strukturierten Verfahren durchführen. Das Gericht verfügte, dass bis 31. Dezember 2019 eine Neuregelung gefunden sein müsse. Heute werden 20 Prozent der Studienplätze für Humanmedizin über das zentrale Vergabesystem Hochschulstart vergeben, hier kommt es nur auf die beste Abiturnote an. Weitere 20 Prozent der Bewerber werden über die Länge ihrer Wartezeit ausgewählt. Den Löwenanteil von 60 Prozent vergeben die Hochschulen selbst, die meisten verzichten aber auf umfangreiche Auswahlverfahren sondern gehen ebenfalls nach dem NC.
Geklagt hatte das Gelsenkirchener Verwaltungsgericht: Das BVG sollte prüfen, ob die derzeitige Praxis verfassungskonform sei, da die freie Berufswahl durch den Numerus Clausus (NC) und die Kapazitätsengpässe eingeschränkt sei. Die Abiturnote sei für die Zulassung das maßgebliche Kriterium, kritisierten die Richter in Nordrhein-Westfalen. Zudem würde bei den Auswahlverfahren der Hochschulen nicht berücksichtigt, dass die Abiturnoten innerhalb der Bundesländer deutlich voneinander abweichen (DocCheck berichtete). Das Karlsruher Urteil betrifft eine wachsende Zahl von Bewerbern: Während zum Wintersemester 1994/95 noch 7.366 Studienplätze für 15.753 Bewerber verfügbar waren, standen etwa zum Wintersemester 2014/15 nur noch 9.001 Studienplätze für 42.999 Bewerber zur Verfügung, so das Gericht. Das BVG ist nun zu einem Urteil gelangt: Die Vergabe nach bester Abiturnote, Wartezeit und Auswahlverfahren durch die Hochschulen sei grundsätzlich mit dem Grundgesetz vereinbar. Es hält allerdings einige Änderungen für notwendig, um die Ausbildungs- und Berufswahlfreiheit nach Artikel 12 Abs. 1 Satz 1 mit dem allgemeinen Gleichheitssatz nach Artikel 3 Abs. 1 im Grundgesetz zu verbinden. Daraus ergebe sich ein Recht auf Teilhabe an den vorhandenen Studienangeboten, die der Staat mit öffentlichen Mitteln geschaffen habe, so die Begründung der Richter. Wer die subjektiven Zulassungsvoraussetzungen erfülle, habe ein Recht auf gleiche Teilhabe am staatlichen Studienangebot und damit einen Anspruch auf gleichheitsgerechte Zulassung zum Studium seiner Wahl.
Die Wartezeit von derzeit 15 Semestern dürfe die Studiendauer selbst nicht überschreiten, so das BVG-Urteil. Auch soll es künftig bei der Bewerbung keine Festlegung auf sechs Studienorte mehr geben: So könnte ein Bewerber leer ausgehen, der, hätte er eine andere Stadt gewählt, einen Platz bekommen hätte. Das widerspricht dem Grundgesetz. Edmund Neugebauer, Dekan an der Medizinischen Hochschule Brandenburg (MHB), begrüßt grundsätzlich den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts, Hochschulen zu einem bundeseinheitlichen Zulassungsverfahren und Tests zu verpflichten, die über den Numerus Clausus hinausgehen. Die MHB hat es sich zum Ziel gesetzt, fachlich versierte, menschlich kompetente und gesellschaftlich engagierte Ärzte auszubilden. „Für mich ist der Numerus Clausus eine vollkommene Über- und Falschbewertung der Abiturienten, die sich für Medizin interessieren“, sagt Neugebauer, „aber das BVG-Urteil ist schon einmal ein richtiger Schritt in die richtige Richtung.“ Dennoch kritisiert er, dass der Numerus Clausus als wichtigstes Auswahlkriterium für das Medizinstudium erhalten bleibe: „Der Numerus Clausus mit einer Eins vor dem Komma sagt nichts anderes aus, als dass jemand in der Lage ist, eine gute Note zu erreichen und sein Studium erfolgreich zu beenden“, sagt er. „Als Arzt brauche ich aber Sozialkompetenz und Empathie, ich muss kommunikationsstark und teamfähig sein. Genau das aber bildet der Numerus Clausus nicht ab.“
Natürlich hätten die Hochschulen den Auftrag, dafür zu sorgen, dass es genug Ärzte gebe. Da es aber deutlich mehr Interessenten als Studienplätze gebe, seien die Hochschulen auf das System Numerus Clausus gekommen. „Der Numerus Clausus ist vielleicht das richtige System, um Mediziner auszuwählen, jedoch das falsche System, um Ärzte auszuwählen. Das ist ein ganz wesentlicher Unterschied“, so der Dekan: „Mediziner kann jeder werden, der gut lernen kann, aber Arzt nicht.“ Neugebauer bemängelt, das jetzige System fordere von Studenten vor allem die Fähigkeit, Fakten auswendig lernen zu können. „Etwas flapsig formuliert: Jemand, der ein Telefonbuch auswendig lernen kann, schafft auch das Medizinstudium, aber er wird noch lange kein guter Arzt“, sagt er. „Wir brauchen aber Mediziner, die sich in den Dienst des Patienten stellen, sich ihm und seinen Bedürfnissen unterordnen. Nicht ich als Arzt sage, was der Patient machen soll, sondern ich ergründe, was der Patient braucht. Man spricht dann von patientenzentrierter Medizin, wobei insbesondere Kommunikationsfähigkeiten gefragt sind.“
Mit dem jetzigen Auswahlverfahren werde möglicherweise eine Gruppe von Menschen ausgewählt, die ein patientenzentriertes Gesundheitssystem nicht brauche, so der Dekan. Durch sie werde das ökonomisierte Gesundheitssystem aber in dieser Form weitergeführt: „Die Sicht des Patienten muss die zentrale Rolle spielen für diejenigen, die sich um eine Ausbildung zum Mediziner bewerben.“ Das könne ein Bewerber zum Beispiel sehr gut zeigen, indem er vor dem Studium eine Pflegeausbildung absolviere oder Rettungssanitäter werde, sagt Neugebauer. „Er muss für sich erkennen, dass ihm eine dienende Rolle liegt und er dabei eine gewisse Befriedigung empfindet. Pflegen heißt, ich muss mich dem Kranken und seinen Beschwerden widmen.“ Jetzt sei es eher umgekehrt, sagt er: „Das soziale Ansehen des Arztes ist immer noch hoch, der Verdienst ist gut, man kann viel Geld verdienen. Das könnte die Motivation vieler junger Menschen sein, um Medizin zu studieren. Aber das ist nicht das, was wir brauchen.“ Die große Herausforderung für die Hochschulen und die Bundesländer wird es nun nach dem Urteil der Karlsruher Richter sein, bis Ende 2019 eine Reform für adäquate und gerechte Auswahlverfahren und Eignungsprüfungen zu entwickeln. Zudem wird das Karlsruher Urteil auch Auswirkungen auf andere zulassungsbeschränkte und begehrte Studienplätze haben wie Zahnmedizin, Tiermedizin und Pharmazie – gerechtere als zuvor.