Während meiner Promotion kam ich als Veterinärin bei den Tierversuchen an meine moralischen Grenzen. Was ist das Leben einer Maus wert – und sind Versuche dieser Art überhaupt noch zeitgemäß?
Als Veterinärin hatte ich mich logischerweise schon während des Studiums daran gewöhnt, im Rahmen der Lehre mit toten oder lebenden Tieren zu arbeiten. Seien es Pferdebeine oder Katzenkadaver, die wir für das Erlernen anatomischer Strukturen benötigten, Rinder mit Pansenfisteln, bei denen wir das Organ live in Aktion sehen und anfassen konnten oder Hunde, an denen wir körperliche Untersuchungen üben konnten. Auch hatte ich mich viel mit Ethik und der Verantwortung beschäftigt, die das Euthanasieren eines Tieres mit sich bringt. Beim Landwirtschaftlichen Praktikum konnte ich verschiedene Nutztierhaltungen kennenlernen – im Schlachthofpraktikum sehen, wie Tiere zu Lebensmitteln wurden. Und doch forderte mich nichts moralisch so heraus, wie die Zeit meiner Promotion, in der ich Mausversuche durchführte.
Mit Tierversuchen in der medizinischen Forschung ist das so eine Sache – ich sehe durchaus ihren Sinn. Für manche Fragestellungen ist es eben wichtig, den Gesamtorganismus zu betrachten. Da hilft einem die Zellkultur oder auch ein Organoid nur bedingt weiter. Man möchte beispielsweise schauen, ob ein Wirkstoff Schäden in Organsystemen verursacht oder beobachten, wie Immunzellen oder Botenstoffe durch den Körper wandern und sich in bestimmten Organen ansiedeln. Und doch war ich tief betroffen davon, wie viele Mäuse ihr Leben für die Forschung lassen müssen.
Für die, die bisher wenig oder gar keine Einblicke in diesen Bereich hatten: Bevor man einen Mausversuch durchführen kann, muss man natürlich erst einmal einen Antrag stellen. Dort muss genau begründet werden, warum man wie viele Tiere für welche Phase des Versuchs einplant – man braucht ja schließlich auch eine gewisse statistische Aussagekraft. Auch muss man erklären, warum man für die erhofften Erkenntnisse keine alternative Methode zum Tierversuch verwenden kann.
Wurde der Antrag genehmigt, muss man überlegen, welche Mäuse man verwenden möchte oder kann. Braucht die Maus vielleicht spezifische Eigenschaften wie helles Fell oder ein bestimmtes Geschlecht? Möchte man eine Erkrankung oder einen Gendefekt untersuchen? Dann kann man entweder auf eine eigene Zucht zugreifen oder muss die Tiere teuer bestellen. Hierfür gibt es Hochglanzkataloge mit Bildern der verschiedenen Mausstämme samt Variationen und Preisen. Oft werden die Tiere dann auch aus anderen Ländern oder gar Kontinenten zugeschickt.
In meinem Fall verfügte die Arbeitsgruppe über eine wohlgehegte eigene Mauszucht, von der ich einen Teil übernahm. Darunter waren verschiedene Mauslinien, bei denen ein Gen ausgeschaltet war, sogenannte Knockout-Mäuse. Aber für die Versuche brauchten wir auch ganz normale Tiere, den Wildtyp. Es fing damit an, dass ich besser im Handling der Tiere werden und bestimmte Eingriffe üben musste. Dann brauchten wir für unsere Versuche nur Männchen, da sie ihre Beschwerden deutlicher zeigen als Weibchen und eine Vergleichbarkeit gegeben sein musste. Das bedeutete: Hier drei, vier Mäuse zum Üben töten, dort von drei Würfen alle Weibchen töten, die wir nicht für die Zucht brauchten und so weiter.
Wollte man Mäuse mit einer bestimmten Genkombination haben, musste man so lange kreuzen, bis die Nachkommen dem gewünschten Genotyp entsprachen. Das bedeutete: Elterntiere zusammensetzen, alle Nachkommen genotypisieren (hierfür wurde immer ein kleines Stück vom Schwanz mit einem Skalpell abgetrennt, für die PCR) und später wieder passende Tiere verpaaren. Nachkommen mit dem falschen Genotyp wurden dann natürlich wieder getötet – es gab ja schließlich keine Verwendung für sie. Damit man die Tiere in einem Käfig unterscheiden konnte, bekamen sie außerdem eine Markierung mit Kerben in die Ohren, als sie noch jung waren.
Ich kam nicht umhin, mich in die kleinen Tiere hineinzuversetzen – auch wenn ein Tier ein Tier bleibt und man es nicht vermenschlichen sollte. Da wird man also geboren, lebt in einer kleinen Plastikbox mit künstlichem Lichtrhythmus und auf engstem, immer gleichem Raum. Die Umgebung ändert sich nie, kein Input, keine Beschäftigung. Noch als Jungtier wird man herausgenommen, fixiert und es wird einem ein Stück Ohrmuschel herausgeschnitten. Auch ein Stück Schwanz wird abgetrennt. Dann hat man entweder das falsche Geschlecht oder den falschen Genotyp und wird direkt per Genickbruch getötet, oder man kommt in einen Versuch und bekommt Krankheitserreger oder etwas anderes gespritzt oder appliziert und wird dann erst zur Probenentnahme am Ende des Versuchs oder schon früher aus Tierschutzgründen getötet.
Ich möchte klarstellen: Das alles lief vollkommen korrekt und gesetzeskonform ab; es wurden die schonendsten Verfahren gewählt und niemand fügte den Tieren mehr Schmerz oder Leid zu als nötig. Und trotzdem kam ich in dieser Zeit an meine Grenzen – ähnlich wie oft, wenn ich Einblicke in die industrielle Tierhaltung bekam.
In einem Interview mit einem der renommiertesten Verhaltensbiologen Deutschlands las ich neulich, wie sehr sich unser Wissen über die kognitiven Leistungen von Tieren in den letzten 50 Jahren verändert hat. War man in den 70er Jahren noch der Meinung, dass Tiere nicht denken können und lediglich Spielbälle ihrer Instinkte seien, so weiß man heute, dass selbst Vögel oder Insekten zu erstaunlichen Verhaltensweisen fähig sind. Tiere verknüpfen Gedanken, erkennen sich selbst im Spiegel, haben eine Persönlichkeit, entwickeln kulturelle Unterschiede, Spielen aus reiner Freude, entwickeln Verhaltensstörungen, wenn sie ohne Sozialverband aufwachsen, lernen soziale Regeln und Sprachen und noch vieles mehr.
In einer Studie mit über 2.000 Befragten fanden Forscher jüngst heraus, dass die Teilnehmer eher skeptisch waren, wenn Studienergebnisse darauf hindeuteten, dass Tiere über fortgeschrittene geistige, soziale oder emotionale Fähigkeiten verfügen. Im Gegensatz dazu waren sie empfänglich, wenn Daten darauf hindeuteten, dass Tieren diese Fähigkeiten fehlen. Die Befragten tendierten deutlich mehr dahin, dass Tiere nicht denken oder fühlen können – obwohl wissenschaftliche Erkenntnisse etwas anderes aussagen. Wie fair bewerten wir also als Menschen die Situation dieser Tiere?
Mit unserem Verständnis von vor 30, 40 oder 50 Jahren waren die heutigen Tierhaltungen in Industrie und Wissenschaft noch in Einklang zu bringen und ließen sich logisch ableiten. Aber mit dem was wir heute über Tiere, ihre Fähigkeiten und Bedürfnisse wissen – müssten wir unser Verhalten ihnen gegenüber nicht entsprechend anpassen? Ich habe leider keine Lösung, wie das konkret aussehen könnte. Der Status quo aber ist sehr unbefriedigend und fühlt sich – für mich jedenfalls – einfach falsch an.
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