RÜCKENSCHMERZ-KLARTEXT | Wie behandele ich Rückenschmerz, der nachts auftritt? Und was tue ich mit Patienten, die „keine Zeit für Sport“ haben? Ihr habt gefragt, unser Experte Oliver Tobolski liefert Antworten.
In der aktuellen DocCheck Sprechstunde von DocCheck Experts ging es um das Thema Rückenschmerzen. Das Gespräch mit dem Experten fand auch dieses Mal wieder als Live-Stream statt. Dr. Mats Klas hat das Ganze moderiert und eure Fragen an unseren Experten Prof. Dr. Oliver Tobolski gestellt. Was unser Experte zu sagen hatte, könnt ihr hier nachlesen oder als Video anschauen.
Im Grunde ist das der klassische Hexenschuss, oder man sagt auch gern, „da ist ein Nerv eingeklemmt“. Welcher das ist, müssen wir herausfinden. Das ist eher der unspezifische Rückenschmerz, der stichartig einfährt. Der Patient kommt schwer schmerzgeplagt in die Sprechstunde und hat die Vorstellung, dass wir jetzt irgendwas machen und dann der Schmerz vorbei ist. Das ist der häufigste Schmerz, gefolgt von den chronifizierten, eher länger andauernden Beschwerden, wenn ich lange sitze oder stehe, oder auch, wenn ich nachts vom Schmerz wach werde.
Der nächtliche Rückenschmerz ist tatsächlich ein Red Flag, also ein Hinweis darauf, dass ich genauer auch in der Bildgebung hingucken soll, weil Rückenschmerzen in der entspannten Position im Bett eher rückläufig sind. Dann spielt sehr häufig eine rheumatologische Grunderkrankung eine Rolle, eben die Spondylopathien, die wir abklären sollten. Das ist sicherlich etwas, was dann dem Spezialisten zugeführt werden sollte. Aber auch die klassischen Iliosakralgelenksprobleme werden nachts schlimmer in der Entspannung. Die zweite Frage zur Malignität kennen wir noch so aus dem Studium: Nachtschweiß, Abgeschlagenheit, Gewichtsverlust und Rückenschmerz. Da sollten wir genauer nachgucken, ob vielleicht hinter einem unspezifischen Rückenschmerz eine ganz andere Ursache steckt.
85 Prozent der deutschen Bevölkerung hat in dem Rückensurvey 2003 und 2006 angegeben, in den letzten zwölf Monaten Rückenschmerzen gehabt zu haben. Es ist also eine sehr weit verbreitete Erkrankung und ich soll nicht – wenn wir den Leitlinien folgen – jeden Rückenschmerz erstmal radiologisch untersuchen, erst recht nicht kernspintomographisch, denn ein Großteil der Schmerzen sind unspezifisch. Es sind also funktionelle Beschwerden durch Fehlhaltungen, Verkürzungen oder Abschwächung von Muskulatur. Und diese Erkrankung des Rückenschmerzes, die ja ohne Frage schwerwiegend und unangenehm ist, die geht ohne eine spezifische Therapie auch wieder weg. Und das Schlimmste, was wir den Patienten antun können, ist, erst mal zu sagen: Wir machen Bilder von oben nach unten, wir legen dich ins Bett und wir schreiben dich zwei Wochen krank. Diese Kombination führt dazu, dass ein Schmerzbild, was möglicherweise nur leicht ist, dann im weiteren Verlauf chronifiziert und schwerer wird.
Wir müssen die Patienten aufklären. Natürlich können wir nicht so tun, als ob wir sie nicht ernst nehmen. Das ist nicht Sinn der Sache, sondern wir sagen: Wir erklären ihnen, warum sie dieses Beschwerdebild haben, aber wir warten jetzt mal vier Wochen ab, ohne dass wir direkt mit Spritzen, höhergradigen Medikationen oder irgendwelchen Interventionen anfangen, sondern wir beobachten das. Wir sorgen dafür, dass sie in die Bewegung kommen, möglicherweise beginnend, dann eben auch antiphlogistische, also mit Schmerzmitteln, und alles, was innerhalb von einem definierten Zeitraum – laut Leitlinie eben vier Wochen – nicht nachhaltig abklingt, muss genauer untersucht und dann auch therapiert werden.
Langes Stehen und Rückenschmerz, der bis in beide Beine zieht, das ist keine Radikulopathie, sondern eine Pseudo-Radikulopathie. Eine unspezifische Ausstrahlung in die unteren Extremitäten spricht aus meiner Sicht für eine Iliosakralgelenks-Thematik im Sinne einer Verkantung oder Verkippung des Beckens durch Verkürzung der hüftübergreifenden Strukturen oder Abschwächungen dergleichen. Das ist wunderbar zugänglich mit einem selbstständigen Dehnungs- und Trainingsprogramm, wo ich die schräge Bauchmuskulatur auftrainiere und die verkürzte hüftübergreifende Muskulatur im Rücken aufdehne. Das ist so ein Thema, was wir sehr häufig haben, aber wo wir dann auch ohne große therapeutische Manipulation gut weiterkommen.
Der typische Patient hat eine kleine oder vielleicht auch eine größere Vorwölbung ventral – also in dem Sinne einen Bierbauch – und das zieht das Becken eben in die falsche Position. Das muss aber nicht nur der übergewichtige Patient sein. Auch die Abschwächung der geraden und schrägen Bauchmuskulatur, fehlendes Training und übermäßiges Sitzen können zu solchen spezifischen Problemen führen.
Der Wunsch, eine Pille einzunehmen und nichts machen zu müssen, um Rückenschmerz, der schon länger besteht, loszuwerden, den kann man nicht erfüllen. Gerade Überlastungs- oder Fehlbelastungsbeschwerden durch zu lange Sitzen, langes aufs Handy gucken etc., dagegen hilft nur Aktivität!
Leben ist Bewegung und Bewegung ist Leben. Wir bestehen aus über 300 Muskeln. Und diese sind ja nicht nur bewegungsfähig, sie sind bewegungspflichtig. Wir müssen wirklich einen Fokus darauf legen, dass die Muskulatur in der Harmonie als Agonist und Antagonist, aber auch in der seitlichen Harmonie immer wieder gefördert und gefordert werden muss. Das geht nur über eine dosierte Bewegung, dosiertes Auftrainieren. Je älter wir werden, desto mehr müssten wir uns eigentlich bewegen, um die Muskulatur zu erhalten. Und es sind einfache Übungen, ich sage den Patienten: Kaufen Sie sich einen Schrittzähler oder gucken sie auf die Handy, und erreichen Sie die Zahl 5-, 7-, 8.000 Schritte am Tag. Wir sollten jede Treppe, die wir finden, bergaufgehen, also in die Höhe gehen, und bergab vielleicht ein Aufzug nehmen. Wir sollten mal das Auto stehen lassen. Das sind alles Dinge, die uns in die Bewegung bringen. Möglicherweise lösen sich einfach durch die Bewegung schon Verklebungen und mit dem Auftrainieren von Muskelgruppen bekommt man wirklich viele Schmerzen in den Griff.
Ich glaube, ein Großteil dieser unspezifischen Schmerzen ist einer solchen doch sehr einfachen Therapie zugänglich. Die Themen Übergewicht, Fehlbelastung, Überlastung spielen eine Rolle. Prof. Hollmann, der die Sportschule gegründet hat, sagte einmal diesen Satz, den ich bis heute toll finde: „Es gibt kein Medikament dieser Welt mit so viel Wirkung und fehlender Nebenwirkung wie den Sport.“
Fehlende Bildgebung ist natürlich ein Thema. Wenn die Struktur Wirbelsäule und Spinalkanal keine Auffälligkeiten hat, heißt das ja nicht, dass der Patient sich seine Schmerzen einbildet. Das muss man ganz klar sagen. Ich unterscheide immer zwischen der Struktur Wirbelsäule und Wirbelsäule-umgebene Strukturen. Ich persönlich würde dazu tendieren, eine saubere Funktionsdiagnostik zu machen – sprich, mir den die gesamte Achse anzugucken, lichtoptisch auszumessen, auf dem Laufband etc. die Muskelgruppen zu sichten, über die Elektromyografie Unterschiede zu visualisieren und dann nochmal spezifisch ranzugehen und zu gucken, wo kommt denn jetzt dieser Schmerz her. Wenn er nicht durch eine Strukturschädigung kommt, dann muss es eine Funktionsstörung sein. Die können wir heute visualisieren und mit sehr gezielten Maßnahmen angehen. Wenn das auch nicht hilft, dann wäre eine weitere Idee das probatorische Anspritzen eines solchen Segmentes. Wenn ich jetzt im unteren Rücken ein Beschwerdebild habe, das möglicherweise vom Iliosakralgelenk (ISG) herkommt, und es wird überhaupt nicht besser, dann ist die Tendenz auch da, das ISG zu infiltrieren und zu gucken, ob es dann besser wird.
Das ist ein wirkliches Anliegen von mir, nicht immer sofort die höchstauflösende Bildgebung zu machen und dann zu sagen: Da ist ja nichts und deswegen kann der Patient keine Schmerzen haben. Dann fühlt er sich nicht wahrgenommen, zurecht. Wir müssen zwischen Struktur und Funktion unterscheiden, und die Funktion zu messen und darzustellen, finde ich viel spannender. Es ist auch aufwendiger, aber manchmal zielführender.
Der Patient hat ja schon hochgradig Schmerzmittel genommen. Dann ist der Leidensdruck ohne Frage hoch. Aber die OP muss natürlich sehr, sehr kritisch gesehen werden. Für mich ist die nur dann indiziert, wenn ich eine klare Radikulopathie-Zuordnung habe. Ich muss sehen, dass die Nervenausbreitung zum Segment passt, ich muss den Bandscheibenvorfall sehen. Meines Erachtens ist die periradikuläre Infiltration, also die Bildwandler gesteuerte Infiltration oder Behandlung der Nervenwurzel, auch diagnostisch sinnvoll, um zu sehen: ist die Bandscheibe die Hauptursache davon, wenn auch das nachhaltig nicht hilft? Wenn das der Fall ist, dann ist die OP absolut indiziert bei passender Klinik. Denn wir wissen ja, dass solche Beschwerden, die chronifizieren, sich auch in das Schmerzgedächtnis eingraben und deswegen der Schmerz eigentlich immer schlimmer wird. Deswegen sollte man jetzt auch nicht Monate oder Jahre warten, sondern das sollte man zügig durchziehen.
Eine Spondylodese braucht, je nach Alter des Patienten, 6–8 Wochen, um zu konsolidieren. Bis sie wirklich knöchern ausgeheilt ist, dauert das schon mal 12–16 Wochen. Krafttraining kann man mit Sicherheit schon früher durchführen, das sollte man differenziert sehen. Ich würde jetzt nicht Kreuzheben machen, wenn L5 stabilisiert worden ist, aber ein isoliertes Krafttraining für die Hüftübergangsmuskulatur, ohne dass ich in das Maximaltraining gehe, das halte ich sogar für sinnvoll.
Es gibt Ideen oder Untersuchungen, dass eine Physiotherapie nach solchen Operationen nicht notwendig ist, weil sie uns Leitliniengetreu gar nicht weiterhilft. Stattdessen könnte ein Krafttraining der verkürzten und abgeschwächten Muskulatur sinnvoll sein. Aber da würde ich mit dem verantwortlichen Sporttherapeuten sprechen, welches Training sinnvoll ist. Um auf die Frage zu antworten: Zwölf Wochen würde ich jedenfalls warten und dann kann man sicherlich einsteigen.
Ich persönlich bin ein großer Freund davon. Wir müssen nicht immer in die Trickkiste der Biochemie eingreifen, um den Schmerz zu reduzieren. Wir wissen, dass physiotherapeutische Maßnahmen, sei es jetzt bei entzündlichen Veränderungen, zum Beispiel auf dem Boden einer Arthrose, wirksam sind. Wir wissen auch, dass es phytotherapeutische Maßnahmen gibt, Schmerz zu regulieren. Es würde jetzt zu weit führen, die einzelnen Substanzen durchzugehen, aber ich halte das für ein sinnvollen Weg, genauso wie die Akupunktur ja auch nachweislich positive Auswirkungen auf das Schmerzgedächtnis hat.
Zu Akupunktur gab es eine interessante Studie. Da hat man überprüft, welche Auswirkungen die Akupunktur auf Knie-arthrotische Beschwerden und auf Rückenschmerzen hat. Da ist in einer sehr großen Studie nachgewiesen worden, dass es positive Auswirkung auf die Arthrose hatte. Jetzt kommt das Aber: Es war egal, ob ich irgendwie die Nadeln eingebracht habe, oder eben nach der Lehre der traditionellen chinesischen Medizin. Ich glaube trotzdem, dass die Akupunktur ein sinnvolles Verfahren ist. Ich glaube auch, dass es sinnvoll ist, dass es jemand macht, der es kann. Es bringt nichts, zehn Nadeln reinzusetzen, nur weil ich das dann abrechnen kann. Ich würde es absolut mit in das Portfolio einer multimodalen Therapie mit aufnehmen.
Ich bin zum Beispiel auch ein Freund von Behandlungen mit Faszienrollen, also die Faszien-Behandlung der Strukturen durch eine sehr einfache, zu Hause durchführbare Therapie. Andere Verfahren wären Muskel-Entspannungsverfahren, also Stress-Behandlungen. Denn zum Beispiel ein HWS-Beschwerdebild ist mit Sicherheit auch moduliert, wenn ich viel Stress habe und die Trapezius-Muskulatur permanent hochgezogen ist. Dann kann ich nur entspannen, wenn ich progressive Muskelrelaxation oder solche Übungen mache. Das sind multimodale Dinge, die wichtig sind und die zusammengreifen müssen. Alles mit dem Ziel, den Schmerz zu verbessern.
Ich weiß es aus dem eigenen Studium, dass die manuellen Techniken, also das Untersuchen eines Gelenks oder des Rückens, gar nicht gut gelehrt werden. Ich würde sagen, dass ein Untersuchungskurs sehr sinnvoll ist. Vor allem mit dem Themenbereich: wie untersuche ich eigentlich eine Schulter, ein Knie und einen Rücken? Die Weiterbildung Manuelle Therapie ist gar nicht so aufwändig. Das ist keine osteopatische Ausbildung, aber da gibt es Kurse und da bekommt man ein schönes Gefühl für das Zusammenspiel von Gelenken und wie ich Beschwerden mit einfachen Mitteln gut behandeln kann.
Die immer viel beschworene, aber für mich wirklich wichtige Lotsenfunktion des Hausarztes steht hier ganz weit im Vordergrund. Ein Rückenschmerz, der plötzlich aufgetreten ist und keine Red Flags – die wir vorhin schon angesprochen haben – aufweist, ist per Definition Leitlinienkonform ein unspezifischer Rückenschmerz. Ich muss den Patienten informieren, dann berate ich den Patienten. Ich führe analgetische Therapiemaßnahmen durch, die notwendig sind: so wenig wie möglich, so viel wie nötig. Ich schreibe ihn nicht lange krank und ich informiere ihn. Nur wenn das nicht funktioniert, trotz adäquater Therapie, wie gerade beschrieben, dann sollte er nach vier, fünf Wochen in eine spezifische Weiterbehandlung entlassen werden mit der Frage: Steckt was anderes dahinter? Die hausärztlichen Kollegen, die das so handeln, tun das absolut Leitlinienkonform.
In einer digitalen Zeit mit Homeoffice und gerade seit Corona ist das Thema „Leben ist Bewegung und Bewegung ist Leben“ ein ganz, ganz wichtiges: Die Menschen dafür zu sensibilisieren, sich zu bewegen. Das muss ja überhaupt kein Fitnessstudio sein. Ich kann ein sehr einfaches Programm mit zwei, drei Übungen zu Hause auf meinem Teppich oder auf einem Handtuch machen und das kostet mich fünf Minuten Zeit meines Tages, führt aber mit Sicherheit eine deutliche Beschwerdeverbesserung herbei.
Mein Chef hat früher mal gesagt, wenn der Patient meint, er hat keine Zeit dafür, sagt er ihm: „Dann kommen sie bitte wieder zu mir, wenn das Problem so schwerwiegend ist, dass sie sich die Zeit dafür nehmen.“ Also, wenn der Patient sagt, da habe ich keine Zeit zu, ist das für mich ein „Killing Argument“, denn dann ist ein Problem auch nicht so schlimm. Dann soll er aber auch bitte nicht meine Zeit klauen.