Wir geben in der Apotheke die Medikamente raus, die der Arzt verordnet hat – ganz einfach, oder? Manchmal leider nicht. Das zeigt der Fall von Frau Moser: Eine Odyssee, die wohl kein gutes Ende nehmen wird.
Es ist doch so: Man nimmt Medikamente nicht zum Spaß, sondern aus Gründen. Das können Stoffwechselstörungen, Beschwerdenlinderung oder die Prophylaxe von ernsten Gesundheitsproblemen sein. Trotzdem haben viele Leute Mühe, die Medikamente richtig (und vor allem regelmäßig) zu nehmen. Die meisten, die Medikamente nehmen mussten, kennen das Problem. Es verschärft sich, wenn man von etwas keinen unmittelbaren Effekt bemerkt – zum Beispiel, weil es prophylaktisch genommen werden muss. Auf der anderen Seite gibt es Medikamente, deren (Sofort-)Effekt so angenehm ist, dass sie zu häufig genommen werden. Man spricht von Missbrauch – eigentlich ist auch das eine nicht korrekte Einnahme.
Zur richtigen und regelmäßigen Einnahme von Medikamenten gibt es Hilfsmittel. Ich stelle sie euch hier mal anhand einer nicht-adhärenten Patientin vor. Ich präsentiere Frau Moser – Mitte 70, körperlich noch gut zuwege. Wir haben sie von einer anderen Apotheke übernommen, da sie in unser Quartier gezogen ist. An Medikamenten hat sie eigentlich nur ein Mittel gegen Schilddrüsenunterfunktion in ziemlich hoher Dosierung, gelegentlich Schmerzmittel wegen Rückenschmerzen und „ihre Seresta“.
Von den Benzodiazepinen (dem Beruhigungsmittel Seresta) ist sie abhängig. Seit Langem – und etwas mehr als nur Low-Dose-abhängig. Das ist die erste Baustelle. Sie hat ein Dauerrezept vom Arzt, der es versäumt hat, aufzuschreiben, wie viele sie davon maximal nehmen darf pro Tag. „Bei Bedarf“ ist keine gute Angabe hier, weder für uns noch die Patienten – denn die neigen oft dazu, irgendwann die Dosis zu steigern. Die häufige Abgabe fällt in der Apotheke bald auf und man holt beim Arzt die richtige Dosierung ein.
Erster Schritt für eine bessere Compliance bzw. richtige Medikamenteneinnahme: die Dosierungsetikette. Auf die Dosierungsetikette kommt die maximale Tagesdosis. In diesem Fall: „Maximal 3 Tabletten täglich einnehmen.“
Frau Moser ignoriert das und nimmt sie weiterhin wie M&Ms. Nach regelmäßigen Diskussionen mit ihr und in Absprache mit dem Arzt beschränken wir deshalb die Abgabe auf 1 Packung zu 50 Stück alle 2 Wochen. Wer rechnen kann, merkt: Das sind immer noch mehr als die 3 pro Tag.
Jetzt fangen die Ausreden an, weshalb Frau Moser die Packung früher braucht. Von verloren, irgendwo liegengelassen, in die Toilette gefallen, gestohlen ist alles dabei. Das betrifft praktisch ausschließlich die Seresta – das Schilddrüsenmedikament oder die Schmerzmittel verschwinden nie. Was aber auffällt, ist, dass es mit ihrem Gedächtnis zeitgleich abwärts zu gehen scheint. Ein Teil der „verschwundenen“ Tabletten lässt sich vielleicht auch dadurch erklären: Sie weiß nicht mehr, ob und wie viele sie jetzt schon genommen hat. Benzodiazepine selber sind außerdem nicht gut für das Gedächtnis.
Weil das zunehmend schlimmer wird, führen wir eine fraktionierte Abgabe ein. Frau Moser bekommt jetzt also die Seresta als Wochendosis abgepackt: 3 mal 7 = 21 Tabletten in einem Plastikbeutel.
Das geht so eine Weile mal besser, mal schlechter. Wegen ihrer Gedächtnisprobleme und Rückenschmerzen bekommt sie Unterstützung durch die Haushilfe – die kommen ihre Medikamente holen und helfen im Haushalt und beim Einkaufen. Dazwischen haben wir jedoch immer wieder Anrufe von ihr wegen „fehlenden“ Tabletten. Mit immer wieder meine ich: manchmal mehrmals täglich. Gelegentlich tauchen diese wieder auf, aber immer wieder die Frage: Sollen bzw. können wir ihr mehr geben? Nach mehreren belastenden Wochen entscheiden wir (zusammen mit dem Arzt, den sie auch mehrmals angerufen hat), dass wir die Seresta im Plastikbeutel für eine Woche nach Tagen abpacken. Also pro Tag und mit Datum angeschrieben: Tagesdosis für Montag, den Soundsovielten, 3 Tabletten Seresta, 15 mg. Und keine Ausnahmen mehr. Die Haushilfe soll ihr außerdem bei der richtigen Einnahme helfen.
Es klappt weiterhin nur so mäßig.
Nach weiteren Wochen mit Anrufen wegen verschwundener, verlorener, geklauter Tagespackungen oder einzelner Tabletten müssen wir auf die tägliche, kontrollierte Abgabe gehen. Das Medikament muss nun täglich in der Apotheke bezogen werden. Das Problem hier: Sie kann oder will (wegen Rückenschmerzen und anderem) nicht täglich das Medikament holen kommen und wir haben auch wirklich nicht die Kapazität, es täglich vorbeizubringen – und es in den Briefkasten zu legen, würde nur mehr „Tabletten verschwunden“-Anrufe provozieren). Die Haushilfe kommt ebenfalls nicht häufig genug dafür. Nach ein paar Wochen gehen wir deshalb auf wöchentliche Abgabe von Tagesdosen zurück.
Damit funktioniert es einigermaßen – wahrscheinlich, weil sie froh ist, nicht mehr täglich vorbeikommen zu müssen. Bis wir Rückmeldung von der Haushilfe bekommen, dass das mit der regelmäßigen Einnahme auch bei ihren anderen Medikamenten nicht funktioniert. Deshalb sollen wir nun alle Medikamente in ein Wochendosett rüsten und das regelmäßig abgeben.
Wir besorgen einen aktuellen Medikamentenplan. Wir holen die noch vorhanden Medikamente von Frau Moser, damit sie die nicht doppelt nimmt. Wir rüsten die Medikamente in das Wochendosett und wir erklären es Frau Moser bei der Abgabe. Prinzipiell ist es einfach: Man nimmt an dem Tag zu der Tageszeit (Morgen, Mittag, Abend, Nacht) die Tabletten, die in dem entsprechenden Fach sind. Bei ihr ist noch extra angeschrieben, sie nüchtern zu nehmen morgens – mindestens 30 Minuten vor dem Essen.
Montag, Dienstag, Mittwoch … Donnerstagmorgen erhalten wir einen Anruf von Frau Moser. Sie hat sich gestern Abend sehr unwohl gefühlt und die Sanität gerufen. Im Spital haben sie festgestellt, dass ihre Schilddrüsenhormone viel zu hoch sind. Das scheint jetzt überraschend – immerhin hat sie Medikamente gegen Schilddrüsenunterfunktion, in ziemlich hoher Dosierung außerdem. Was ist passiert? Meine Vermutung: Sie hat schon eine lange Zeit die Medikamente nicht richtig genommen. Der Arzt hat die Dosis erhöht, weil der Hormonspiegel trotz angeblich richtig genommener Medikamente zu tief war. Und nun mit dem Dosett hat Frau Moser die Medikamente vielleicht erstmals korrekt eingenommen – und das war halt zu viel. Man merke sich: Nicht genommene Medikamente wirken auch nicht. Wir bekommen vom darüber informierten Hausarzt eine Dosisanpassung für die Schilddrüsenmedikamente – Frau Moser muss nur noch alle zwei Tage das Medikament in einer niedrigen Dosierung einnehmen – und in ein paar Wochen zur Kontrolle. Man erklärt es ihr und gibt das umgerüstete Dosett ab.
Aber das ist noch nicht das Ende. Frau Mosers Gedächtnisprobleme werden schlimmer und wir bekommen wieder täglich Anrufe von ihr, weil sie Tabletten im Dosett umräumt. Sie nimmt welche an einem Tag raus, gibt sie am anderen rein und reklamiert dann bei uns, weil sie an einem Tag nicht genug oder zu viele Tabletten hat.
Man könnte jetzt die Medikamente verblistern – damit verhindert man das verschieben und herummanipulieren. Theoretisch zumindest. Bei Frau Moser ist es aber so, dass sie es trotzdem tut und sich außerdem noch über die Handhabung der Blister reklamiert, da sie ihr nicht einfach genug zu öffnen sind und sie die Tabletten manchmal anders nehmen will (ihre Seresta hauptsächlich).
Also zurück zum Dosett.
Die Haushilfe, die jetzt öfter kommt, soll nach Vorgabe des Arztes das Dosett wegschließen und ihr nur noch die Tagesdosen herausgeben. Das will Frau Moser aber partout nicht. Ich kann das verstehen, das ist ein Stück Selbständigkeit, die sie hier verliert. Aber was sind die Alternativen?
Es ist eine Tragödie und keine Lösung in Sicht. Ist die nächste Station das Pflegeheim?
Bildquelle: Felicia Montenegro, unsplash