Ein neuer Trend aus den USA: Umfangreiche und detaillierte Genanalysen bei Kindern sollen schon bald herkömmliche Screenings ersetzen. Amerikanische Eltern sind von den neuen Chancen mehrheitlich angetan, während Pädiater vor möglichen Risiken warnen.
Screenings als Erfolgsmodell: Seit 1986 untersuchen Pädiater Neugeborene auf das adrenogenitale Syndrom (AGS), eine autosomal-rezessiv vererbte Stoffwechselkrankheit. Betroffene leiden unter Störungen der Hormonbiosynthese in ihrer Nebennierenrinde. Um das Krankheitsbild nachzuweisen, bestimmen Kollegen 17-Hydroxy-Progesteron in Blutproben. Wie Sebastian Gidlöf, Stockholm, berichtet, wurden zwischen 1986 und 2011 gut 2,7 Millionen Babys auf AGS getestet. Die Sensitivität lag bei 84,3 Prozent, und die Spezifität betrug 99,9 Prozent.
Kein Einzelfall: In Deutschland regeln „Richtlinien des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen über die Früherkennung von Krankheiten bei Kindern bis zur Vollendung des sechsten Lebensjahres“ Details zu Neugeborenenscreenings. Laut Anlage 2, Paragraph 5, untersuchen Ärzte Blutproben mit konventionellen Tests auf Hypothyreose, auf das adrenogenitale Syndrom, auf Biotinidasemangel oder auf Galaktosämie. Bei anderen Stoffwechselerkrankungen kommen Tandem-Massenspektrometer zum Einsatz. Eltern schätzen entsprechende Angebote: Laut Screeningreport haben fast alle Neugeborenen an den Untersuchungsprogrammen teilgenommen. Jetzt fordern Wissenschaftler, Mukoviszidose und den schweren kombinierten Immundefekt (severe combined immunoedeficiency syndrome, SCID) mit aufzunehmen. In den USA geben sich Bürger damit nicht zufrieden.
Um Details zu erfahren, hat Aaron J. Goldenberg, Cleveland, 1.539 Eltern befragt. Der Forscher wollte wissen, auf welche Akzeptanz Genomanalysen bei Neugeborenen stoßen. Drei von vier Studienteilnehmer gaben an, die Technologie interessant oder sehr interessant zu finden. Sollten Pädiater Sequenzierungen anbieten, würden 70 Prozent entsprechende Leistungen in Anspruch nehmen. Mit seinen Resultaten wendet sich Goldenberg primär an staatliche Gesundheitseinrichtungen. Diese könnten besser abschätzen, welcher Bedarf an Sequenzierungen tatsächlich bestehe, schreibt der Wissenschaftler. Erste Pilotprojekte laufen bereits. So untersuchen das Eunice Kennedy Shriver National Institute of Child Health and Human Development (NICHD) beziehungsweise das National Human Genome Research Institute (NHGRI) molekularbiologische Aspekte speziell bei den Kleinen. „Sequenzierungen haben das Potenzial, eine Vielzahl von Erkrankungen ganz am Anfang des Lebens zu erkennen“, sagt Alan E. Guttmacher, Direktor des NICHD. „Aber die Fähigkeit, genetische Code eines Menschen zu entschlüsseln, wirft schnell eine Reihe von klinischen, ethischen und technischen Fragen auf.“
Details stellte Bartha M. Knoppers, Montreal, in einem Übersichtsartikel zusammen: Wo werden sensible Informationen gespeichert, wer hat Zugriff, und wer kann eine Löschung veranlassen? Macht es Sinn, Sequenzdaten ein Leben lang zu archivieren oder sollte – sobald die Methoden noch besser geworden sind – ohnehin eine neue Untersuchung erfolgen? Damit nicht genug: Ärzte stehen vor moralisch schweren Entscheidungen. Sollen sie Eltern nur über Erkrankungen informieren, die sich heute schon behandeln lassen – oder über alle Leiden? Und wie kompetent sind Dienstleister wirklich? Zuletzt hatte die US-Aufsichtsbehörde FDA „23andMe“ untersagt, Ergebnisse von Gentests medizinisch auszuwerten. Ihr fehle die erforderliche Zulassung, hieß es im Schreiben. Daher gebe es keine Sicherheit für korrekte Resultate. Sequenzierungen sind weiterhin möglich; User greifen jedoch auf „openSNP“ zurück, um ihre Rohdaten auszuwerten.
In Deutschland haben Screenings noch keine große Bedeutung erlangt. Umso kontroverser diskutieren Gesundheitspolitiker des Deutschen Bundestags einen Gentest auf Trisomie 21. Zwar stehen Bewertung des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) noch aus, im besten Fall könnte der Test zur Regelleistung werden – derzeit zahlen Patienten etwa 600 Euro aus ihrer eigenen Tasche. Die Linke spricht von „einer weiteren Stigmatisierung von Menschen mit Trisomie 21“. Und Hubert Hüppe (CDU), ehemaliger Behindertenbeauftragter der Bundesregierung, ergänzte: „Es stellt sich die Frage, welchen therapeutischen Nutzen der Praena-Test für das Ungeborene haben soll.“ Laut Paragraph 15 Gendiagnostikgesetz dürfe eine vorgeburtliche, genetische Untersuchung nur dann vorgenommen werden, wenn sie medizinischen Zwecken diene. Hüppes Versuch, die Untersuchungsmethode per Gerichtsbeschluss zu verbieten, war jedoch nicht von Erfolg gekrönt. Baden-Württemberg als Sitz des Herstellers sah keine Handhabe nach dem Gendiagnostikgesetz. Befürworter verweisen auf Komplikationen bei Fruchtblasenpunktionen. Damit haben Kontroversen rund um genetische Untersuchungen in der Pädiatrie auch Deutschland erreicht.