LESERBRIEF | Schlechte Arbeitsbedingungen, Überlastung, keine Work-Life-Balance: Es gibt viele Gründe für den Ärztemangel. Aber einen verschweigen alle – Schuld ist der Patient.
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Ein wiederkehrendes Thema in den Medien – nicht nur hierzulande – scheinen die vermeintlichen Gründe für einen Ärztemangel und die Abwanderung von Ärzten aus der klinischen Versorgung in nicht-klinische Arbeitsbereiche zu sein. Die typischen Erklärungsversuche umfassen Aspekte wie die zunehmende Ökonomisierung der Medizin und daraus folgende Arbeitsverdichtung, unzureichende Weiterbildung und die Überlastung des Alltages durch arztfremde Tätigkeiten. Schlussendlich führt dies dann auf dem einen oder anderen Wege zur Desillusionierung.
Sicherlich finden in diesem Zusammenhang auch Themen wie Vereinbarkeit von Beruf und Familie als auch psychische Kollateralschäden (Burnout) oft Erwähnung. Auf der anderen Seite wird eine Entscheidung zur nicht-klinischen Tätigkeit, immer öfter untrennbar verbunden mit dem Mediziner-Unternehmertum, als positive Entscheidung gesehen. So können doch Mediziner durch ihr Wissen und ihre Fähigkeiten auf anderem Wege zur Volksgesundheit beitragen. Natürlich sind in vielen Industriezweigen – bestes Beispiel: Pharmaindustrie – Mediziner mit ihrem Insiderwissen schon lange unabdingbar. Selbstverständlich gilt dies vor allem dann, wenn generell genug Ärzte ausgebildet werden.
Aus meiner Sicht bleibt jedoch ein bedeutsamer Grund für den Ausstieg vieler Ärzte aus der direkten Patientenversorgung gänzlich unerwähnt: die Verbreitung von den sogenannten funktionellen Körperbeschwerden und den damit verbundenen Konsequenzen für die Arzt-Patienten-Interaktion. Diese heterogene Gruppe von Krankheiten umfasst die ehemaligen somatoformen Störungen und das große Spektrum der vermeintlich psychosomatischen Erkrankungen.
Nun ist es schwer, zu argumentieren, dass die Prävalenz dieser Erkrankungen tatsächlich zugenommen hat. Es scheint eher plausibel zu sein, dass die Wahrnehmung und Benennung dieser Krankheitsbilder als solche – vor allem durch Schulung von Ärzten und erweiterte Diagnosekriterien – zugenommen hat. Es ist aber auch offensichtlich, dass diese Entwicklung zeitgleich mit einer veränderten Anspruchshaltung der Patienten und breiten Verfügbarkeit von ungefilterter medizinischer Information im Internet stattgefunden hat.
Zeitgleich hat die Rolle des Arztes einen Wandel erfahren; vom paternalistischen „Onkel Doktor“ zum Gesundheitsdienstleister. Der letztgenannte ist zwar sogar noch mehr als die Vorgängergenerationen in der ganzheitlichen Medizin geschult, allerding werden seine Diagnose und Therapieempfehlungen oftmals eher als Angebot im Sinne einer Einzelmeinung gesehen. Natürlich ist das Ideal des Shared-Decision-Making eine große Errungenschaft der modernen Medizin. Erhöhte Transparenz und Überprüfung der ärztlichen Entscheidungsfindung sind auch zu begrüßen. Nur hat dies in Bezug auf die funktionellen Störungen unbeabsichtigte Nebeneffekte.
Kein ärztlicher Kollege würde bestreiten, dass der Umgang mit Patienten, die unter einer solcher Störung leiden, überdurchschnittlich schwierig und überwiegend frustrierend ist. Es ist sicherlich nicht so, dass selbst diejenigen Kollegen, die sich am meisten an der Behandlung dieser Patienten aufreiben, davon ausgehen, dass es sich hier um keine genuine Störung mit erheblichen Leidensdruck handelt. Wahrscheinlich würde die Mehrheit sogar bestätigen, dass die Betroffenen oft weitaus mehr beeinträchtigt sind, als Patienten mit einer üblichen, offensichtlich rein organischen Erkrankung. Dennoch erzeugt der Umgang mit solchen Patienten ungeheuerlich viel Frust und viele andere negative Emotionen beim Behandler.
Oftmals führen diese oft wiederkehrenden Patientenkontakte dazu, dass sonst sehr empathische und ausgeglichene Ärzte sich von ihrer schlechtesten Seite zeigen. Dies betrifft insbesondere klassische konservative Organfächer wie Innere Medizin und Neurologie, wo namhafte Vertreter dieser Krankheitsgruppe wie funktionelle neurologische Störungen, Reizdarmsyndrom oder nicht-spezifischer Brustschmerz zu den dominierenden Diagnosen gehören. Aber viele angrenzende Fachgebiete der gesamten Medizin machen täglich ähnliche Erfahrungen. Nun wird genau hier oft eingeworfen, dass dieser Frust daraus resultiert, dass jene Organ-Mediziner keine ganzheitliche Sichtweise auf ihre Patienten haben und/oder die Struktur unseres Gesundheitssystems nicht genug Zeit für schwierige Patientenkontakte ermöglicht. Dies mag alles stimmen. Ich würde aber stark widersprechen, dass diese Aspekte das Ausmaß dieser Schwierigkeiten nur annähernd erklären. Der erlebte Frust und die oft heftige, unproportional erscheinende negative Reaktion beim Behandler beziehen sich vor allem auf die Natur dieser Störungen.
Auch wenn neuere Erklärungsmodelle eher symptomorientierte und kognitive Ansätze verfolgen, als bisher übliche psychodynamische oder ähnliche psychogene Mechanismen zu bevorzugen, ist eine konstante klinische Beobachtung weiterhin, dass die meisten Betroffenen relevante (und meist ganz offensichtliche) psychosoziale Stressoren aufweisen. Oft handelt es sich hier gar um schwere traumatische frühe Kindheitserinnerungen, die offenkundig irreversibel sind. Dies mag sicher auch die Überlappung mit chronischen Schmerzsyndromen und machen Persönlichkeitsstörungen zum Teil erklären.
Eine weitere verbreitete Erfahrung in der Praxis ist, dass insbesondere jene Patienten mit schwer ausgeprägten funktionellen Störungen relevante interaktionelle Defizite aufweisen, die die Arzt-Patienten-Beziehung erheblich verkomplizieren. Es wird dann oft eingebracht, dass diese interaktionellen Probleme Folge früherer unerfreulicher Erfahrungen mit Akteuren des Gesundheitssystems – vor allem im Rettungsdienst oder der Notaufnahme – sind, wo den Betroffenen Geringschätzung und mangelnde Empathie entgegengebracht wurde. Dies erscheint sehr plausibel, würde aber nicht erklären, warum denn gerade vor allem diese Patienten ständig solche Erfahrungen machen.
Möglicherweise ist die Wahrheit, wie so oft, etwas komplizierter und von Nuancen geprägt. Ich würde die These vertreten, dass die Behandler so etwas wie eine erlernte Hilflosigkeit gegenüber diesen Betroffenen erleben. Dies beruht zum einen darauf, dass sie in den Organfächern die Erfahrung machen mussten, dass sie diesen Patienten einfach nicht helfen können. Man kann sich im Übrigen gar nicht sicher sein, dass die gleichen Patienten in psychotherapeutisch bzw. eher ganzheitlich ausgerichteten Behandlungsumgebungen viel besser dran wären. Nach wie vor scheinen solche Betroffenen zwischen die Fachgebiete zu fallen.
Dazu gesellt sich insbesondere in zeitkritischen Settings – wie der Notaufnahme – das Gefühl, dass Zeit, die in solch aufwendigen Aufeinandertreffen subjektiv vergeudet wird, eher anderen Patienten mit besser behandelbaren und lebensbedrohlichen Problemen zukommen sollte. Sicher hat es diese Problematik immer gegeben. Was sich allerdings geändert hat, ist das Arzt-Patienten-Verhältnis und die damit einhergehende Anspruchshaltung sowie der Zugang zu medizinischer Information. So reicht es überwiegend heutzutage nicht mehr, den Patienten den möglichen psychosomatischen Mechanismus hinter ihren ausschließlichen Körperbeschwerden begreiflich zu machen. Vor dem Hintergrund der beeindruckenden Fortschritte der modernen Medizin, wird vom Behandler als Dienstleistender erwartet, diese anhaltentenden körperlichen Beschwerden gezielt erfolgreich zu bekämpften.
Dazu trägt heute auch bei, dass kaum lösbare psychosoziale Konflikte, die früher eher in der Seelsorge angemessene Unterstützung erfahren haben, immer mehr in die Sphären unserer organzentrierten Medizin verschoben werden. Die dann vom Patienten erlebte Enttäuschung, verbunden mit der heute üblichen Tendenz, eine Zweitmeinung einzuholen, beflügelt das Ärztehopping. Der Patient in seiner gestärkten Autonomie entscheidet heute selbst, ob er so eine einzelne ärztliche Meinung am Ende annimmt. Verkompliziert wird diese Bredouille dadurch, dass Betroffene oft eine durch Internetrecherche unrealistische Erwartungsanhaltung an mögliche organische Erklärungsmöglichkeiten haben. Wenn man zum Beispiel „Kribbeln“ in eine Internet-Suchmaschine eingibt, werden sicher nicht zuerst gutartige unspezifische Körperbeschwerden oder eine funktionelle Störung auftauchen – obwohl diese statistisch in der Allgemeinheit am wahrscheinlichsten sind – sondern als bedrohlich empfundene Krankheitsbilder wie Multiple Sklerose.
Ich glaube definitiv nicht, dass mehr Zeit für solche Patientenkontakte oder psychosomatische Schulungen mit Fokus auf Kommunikationstraining an dem erlebten Frust und der Hilfslosigkeit dramatisch viel ändern würden. Sicher sind solche Maßnahmen notwendig – und sie wären hilfreich zur Schadensbegrenzung. Sie ändern allerdings nichts an der Grundproblematik und dem grundlegenden Missverhältnis. Es handelt sich hier um das klaffende Missverhältnis zwischen der Erwartungshaltung des Betroffen bezüglich seiner oft rein körperlichen Beschwerden und dem, was die Medizin im Allgemeinen leisten kann, vor dem Hintergrund oft unveränderbarer psychosozialer Umstände.
Das Einzige, was aus meiner Sicht tatsächlich helfen könnte, einer solchen Desillusionierung vorzubeugen, wäre, angehende Mediziner so früh wie möglich auf die klinische Realität vorzubereiten – Erwartungsmanagement, sozusagen. Eine realistische Erwartung an den zukünftigen klinischen Alltag wäre nämlich nicht, dass man sich die meiste Zeit mit klar definierten und oft reversiblen reinen Organproblemen auseinandersetzen wird.
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Bildquelle: Generiert mit Midjourney