Bei einer Überdosis zählt jede Minute. Nun gibt es ein Mittel, mit dem toxische Substanzen schneller und effizienter aus dem Körper entfernt werden. Das auf Liposomenbasis entwickelte Mittel kommt bei der bisher selten angewandten Peritonealdialyse zum Einsatz.
Bislang gibt es am Markt nur für wenige Medikamente ein Gegengift. Vielfach müssen sich die Ärzte bei einer Überdosis auf unterstützende Maßnahmen wie Erbrechen beschränken. Vor allem bei einem Medikamentencocktail ist die Behandlung schwierig. Was also tun, wenn ein Kind beim Spielen verschiedene Pillen seiner Großmutter schluckt? Auf diese Frage wollte ETH-Professor Jean-Christophe Leroux vom Institut für Pharmazeutische Wissenschaften der ETH Zürich eine Antwort finden. «Es ging darum, ein Mittel zu entwickeln, mit dem viele verschiedene toxische Substanzen möglichst schnell aus dem Körper entfernt werden können», sagt er. Bekannt war Leroux und seinem Team, dass Lipid-Emulsionen Medikamente an sich binden können, wenn sie in die Blutbahn injiziert werden. Diesen Ansatz verfolgten die Wissenschaftler in ihrer eigenen Forschung weiter. So entwickelten sie ein Mittel, das auf Liposomen basiert, kleinsten Bläschen mit einer Lipidmembran als Aussenhülle. Statt per Injektion wird das Mittel als Dialyseflüssigkeit bei der sogenannten Bauchfelldialyse (Peritonealdialyse) eingesetzt. Diese Dialysemethode ist weniger verbreitet als die Hämodialyse, die vor allem als dauerhafte Therapie bei Nierenschäden bekannt ist.
Während das Blut bei der Hämodialyse in einer Maschine im Krankenhaus «gewaschen» wird, wird es bei der Peritonealdialyse innerhalb des Körpers von Giftstoffen befreit. Das Bauchfell dient als Dialysemembran. Die Dialyseflüssigkeit wird über einen Katheter in den Bauchraum geleitet. Dort entzieht sie dem Körper die durch das gut durchblutete Bauchfell tretenden Schadstoffe. Bei der neuen Dialyseflüssigkeit der ETH-Forschenden gelangen die toxischen Verbindungen ins Innere der Liposomen und werden dort gebunden. Ist die Lösung mit toxischen Stoffen gesättigt, wird sie über den Katheter wieder aus dem Bauchraum abgelassen. Die Wissenschaftler konnten zeigen, dass das neue Mittel dabei besonders wirkungsvoll ist. «Unsere Peritonealdialyse-Flüssigkeit kann bis zu hundert Mal mehr Schadstoffe extrahieren als herkömmliche», berichtet der ETH-Professor. Ihrem Prinzip nach ist die Peritonealdialyse für den Notfalleinsatz bei einer Überdosis besonders attraktiv. Im Gegensatz zur Hämodialyse erfordert sie kein aufwendiges Equipment und kann selbst fernab von einem Krankenhaus durchgeführt werden.
Bislang fristete die Peritonealdialyse dennoch ein Nischendasein. Insgesamt nutzen weltweit gerade mal 10 Prozent der Dialysepatienten diese Methode. Bei einer Überdosis kommt sie sogar so gut wie nie zum Einsatz. Zu den Gründen zählt zum einen, dass die Blutreinigung bei der Peritonealdialyse mit den bisher zur Verfügung stehenden Dialysemitteln oft weniger effektiv war als bei der Hämodialyse. Zum anderen besteht auch eine höhere Infektionsgefahr. Die Kathetereintrittsstelle kann sich entzünden, und darüber können Bakterien in den Bauchraum eindringen. Ärzte wählten die Peritonealdialyse daher nur bei einer kleinen Minderheit von Patienten, deren Blut wegen Nierenversagens von giftigen Stoffwechselprodukten gereinigt werden muss. Die Forschungsergebnisse der ETH-Wissenschaftler könnten der Peritonealdialyse zu neuen Einsatzmöglichkeiten verhelfen – und das in doppelter Hinsicht. Denn Leroux und sein Team stellten im Zuge ihrer Forschungen freudig fest, dass ihre Dialyseflüssigkeit den Körper neben den Medikamentenrückständen auch von giftigen Stoffwechselprodukten befreit.
Besonders bei schweren Lebererkrankungen versprechen sich die Forschenden neue Therapiemöglichkeiten. An dem Bedarf hat Leroux keinen Zweifel. Denn neben Hepatitis und hohem Alkoholkonsum können vor allem Übergewicht und Fettleibigkeit zu Erkrankungen der Leber führen. Da immer mehr Menschen in der industrialisierten Welt mit Übergewicht kämpfen, ist dies im wahrsten Sinne des Wortes ein Problem, das zunimmt. Bei Lebererkrankungen, bei denen sich Ammoniak im Blut anreichert, scheint die Dialyseflüssigkeit besonders wirkungsvoll. Untersuchungen an Ratten haben ergeben, dass mit dem Mittel giftiger Ammoniak wirkungsvoll entfernt wird. So könnte bei Neugeborenen, die mit einer Stoffwechselstörung wie dem Harnstoffzyklusdefekt auf die Welt kommen, eine Peritonealdialyse wirksame Soforthilfe leisten. «Wird ein Baby nicht innerhalb von Stunden nach der Geburt behandelt, drohen bereits irreparable Hirnschäden», erläutert Leroux. Die Peritonealdialyse eignet sich gut bei Neugeborenen, da bei ihnen der Venenzugang für eine Hämodialyse schwierig und das Risiko von Thrombosen hoch ist. Nach den erfolgversprechenden Ergebnissen will das Team von ETH-Professor Jean-Christophe Leroux das Mittel nun für den Einsatz in der Medizin weiterentwickeln. Läuft alles wie geplant, werden in den kommenden fünf Jahren erste klinische Studien möglich sein. Originalpublikation: Liposome-supported peritoneal dialysis for detoxification of drugs and edogenous metabolites Foster V. et al.; Science Translational Medicine, doi: 10.1126/scitranslmed.3009135, 2014