Wie entsteht eigentlich Anorexia nervosa? Eins ist jedenfalls sicher – die Krankheit ist keine reine Kopfsache. Auch das Darmmikrobiom scheint seine Finger im Spiel zu haben.
Die Anorexia nervosa (AN) ist schwerwiegende Krankheit mit vergleichsweise hoher Mortalität – die vorwiegend jungen, weiblichen Patienten haben ein 5-fach erhöhtes Mortalitätsrisiko. Die Behandlung erfordert eine langjährige, multidisziplinäre Betreuung und selbst dann erreichen nicht alle Patienten eine vollständige Remission. Die Prävalenz in der Gesamtgesellschaft liegt bei geschätzt 1 %.
Obwohl die Magersucht ein bekanntes und ernstzunehmendes Problem darstellt, ist ihre Pathogenese noch längst nicht vollständig geklärt. Ohne Frage spielen psychologische Faktoren eine entscheidende Rolle: Bestimmte Persönlichkeitsmerkmale, gesellschaftliche Einflüsse, familiäre Konflikte, ein gestörtes Verhältnis zum eigenen Körper, sexueller Missbrauch – sie alle können das Risiko für die Entwicklung einer AN erhöhen. Aber das ist nicht alles: Aus Zwillingsstudien und genetischen Untersuchungen weiß man inzwischen, dass auch erbliche Faktoren eine Rolle spielen. Auf physiologischer Ebene sind auch Störungen der Signalwege im Gehirn zu beobachten.
Da bei der Essstörung sowohl das Gehirn als auch der Verdauungstrakt direkt betroffen sind, ist es wohl kaum überraschend, dass die Forschung auch einen Blick auf die Rolle des Darmmikrobioms geworfen hat. Dieses hat bekanntlich die Fähigkeit, über seine Metaboliten das Verhalten und Gehirnfunktionen zu beeinflussen – Stichwort Darm-Gehirn-Achse. Eine der Funktionen, die von den Mikroben im Darm beeinflusst wird, ist beispielsweise die Appetitregulation. Könnte eine gestörte Darmflora also eine Ursache für die physiologischen und psychologischen Veränderungen bei AN-Patienten sein?
Neuere Studien weisen zumindest drauf hin. Menschen mit Magersucht haben nachweislich andere Mikrobiota als Gesunde; in Mäusestudien wurden solche veränderten Mikrobiota bereits mit einer verminderten Nahrungsaufnahme in Verbindung gebracht. In Nature Microbiology analysierten dänische Forscher nun anhand von Stuhl- und Serumproben die Darmmikrobiota von 77 Probandinnen mit Anorexia Nervosa und einer Vergleichsgruppe von 70 gleichalten gesunden Probandinnen.
Wenig überraschend unterschied sich die Komposition der Mikrobiota zwischen den beiden Gruppen deutlich. So wurden bei den magersüchtigen Patientinnen beispielsweise deutlich reduzierte Anteile von Roseburia intestinalis und Roseburia inulinivorans festgestellt, dafür wurden mehr Laktobazillen gefunden. Bestimmte Bakterien wie Clostridien schienen auch positiv mit der Schwere der Essstörung zu korrelieren.
Nicht nur die Bakterienlandschaft war betroffen – auch das Virom war verändert und das Zusammenspiel zwischen Viren und Bakterien im Darm gestört. Die Folge aller Veränderungen: Die Patientinnen wiesen eine größere Kapazität zum Abbau von Botenstoffen wie Dopamin, Glutamat und Tryptophan auf, die sich auf Gehirnfunktion und Stimmung auswirken. Im Blut der Patientinnen fanden die Forscher auch erhöhte Konzentrationen von bakteriellen Stoffwechselprodukten, die dafür bekannt sind, ein Sättigungsgefühl hervorzurufen.
In einem weiteren Schritt übertrugen die Forscher per Stuhltransplantation die Darmmikrobiota einiger AN-Patientinnen und Vergleichspersonen auf Mäuse ohne eigenes Mikrobiom. Die Mäuse mit dem Mikrobiom der AN-Patientinnen zeigten bei Fütterung mit einer kalorienreduzierten Diät einen ausgeprägteren initialen Gewichtsverlust als die Vergleichstiere. Außerdem war im weiteren Verlauf ihre Gewichtszunahme reduziert.
Die Autoren schließen aus ihren Ergebnissen, dass die Darmflora zur Entwicklung der Anorexia Nervosa beitragen könnte: „Unsere Ergebnisse stützen die Hypothese, dass ein stark gestörtes Darmmikrobiom zu einigen Phasen der Pathogenese von AN beiträgt.” Hier steht man aber weiterhin vor der üblichen Henne-Ei-Problematik: Ist die AN nun Folge des zuerst veränderten Mikrobioms oder ist das veränderte Mikrobiom eine Folge der AN, die den weiteren Verlauf beeinflusst? Die Frage lässt sich durch die Studien nicht sicher beantworten.
Außerdem hat die Studie einige Schwächen, die ihre Aussagekraft einschränken. So sind die Ergebnisse nicht unbedingt auf andere Patientenpopulationen übertragbar; bei den Patientinnen handelte es sich ausschließlich um Frauen, die sich bereits in der Behandlung in spezialisierten Zentren befanden. Bei schwächer ausgeprägten AN-Fällen könnte die Lage anders aussehen. Auch könnten sich Fehler in die Analysen geschlichen haben. Störfaktoren wie Alter, Rauchstatus und Medikamenteneinnahme wurden zwar in der statistischen Auswertung berücksichtigt; zu anderen Faktoren, die die Zusammensetzung des Mikrobioms beeinflussen könnten – wie der Ernährung oder dem körperlichen Aktivitätslevel der Patientinnen – lagen jedoch keine Informationen vor.
Weiterhin sollte auch angemerkt werden, dass an Kontroll- und Patientengruppe anscheinend unterschiedliche Ausschlusskriterien angelegt wurden. Diese Faktoren könnten jedoch ebenfalls einen Einfluss auf das Darmmikrobiom haben. Als Ausschlusskriterien für die AN-Patientinnen nennen die Forscher antibiotische oder antifungale Behandlungen in einem Zeitraum von 3 Monaten vor Studienbeginn, sowie akute oder chronische somatische Krankheiten oder Infektionen. Probandinnen der Kontrollgruppe kamen hingegen nur dann nicht in Frage, wenn sie über- oder untergewichtig waren, eine Antibiotika-Behandlung durchgemacht hatten und regelmäßig Medikamente außer hormoneller Verhütung einnahmen. Die Vergleichbarkeit der beiden Gruppen scheint also durchaus eingeschränkt.
Quellenvan Eeden AE, van Hoeken D, Hoek HW. Incidence, prevalence and mortality of anorexia nervosa and bulimia nervosa. Curr Opin Psychiatry (2021). DOI: 10.1097/YCO.0000000000000739
Fan, Y., Støving, R.K., Berreira Ibraim, S. et al. The gut microbiota contributes to the pathogenesis of anorexia nervosa in humans and mice. Nat Microbiol (2023). DOI: 10.1038/s41564-023-01355-5
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