Plötzlich ist der Patient eine andere Person – die frontotemporale Demenz greift die Persönlichkeit oder Sprache an. Jetzt tut sich etwas in der Behandlung, aber nur langsam.
Der vordere Teil des Gehirns ist für viele Dinge wichtig, die unsere Persönlichkeit formen. Er sorgt etwa dafür, dass wir Impulse unterdrücken können, die unseren langfristigen Zielen zuwiderlaufen. Oder, dass wir sozial anerkannte Verhaltensweisen erkennen und uns daran halten – sprich, dass wir nicht auf dem Marktplatz die Hose runterlassen und uns am nächsten Baum erleichtern. Aber was, wenn genau diese Gehirnregionen nicht mehr richtig funktionieren?
Das geschieht bei der frontotemporalen Demenz (FTD). Diese Erkrankung tritt in der Regel deutlich früher auf als die bekanntere Alzheimer-Demenz. Im Durchschnitt erscheinen die Symptome mit 58 Jahren, teilweise sogar ab 30. Immerhin kommt sie nicht so häufig vor: In Deutschland sind vermutlich etwa 33.000 Patienten betroffen. Die Angaben zur Prävalenz sind je nach untersuchter Altersgruppe und Ort unterschiedlich. Bei Menschen zwischen 30 und 64 liegt sie weltweit derzeit bei 2,3 pro 100.000 Einwohner, in Europa bei 2,9.
Die Symptome können sehr divers sein, was die Diagnose erschwert. In der häufigsten Form, der Verhaltensvariante (Behavioral Variant, bvFTD), fallen anfangs oft Apathie und eine fehlende Selbstkontrolle auf. Manche Betroffenen können sich nicht mehr so gut in andere Menschen hineinversetzen und auch die Handlungsplanung und kompliziertere Gedankengänge sind beeinträchtigt. Selbst kriminelles Verhalten und Aggressionen gegenüber anderen Personen können auftreten.
Zwei weitere Varianten zeichnen sich primär durch Sprachstörungen aus. „Man verliert das Konzept von Dingen und kann sie nicht mehr benennen“, erklärt Prof. Matthias Schroeter, Neuropsychiater am Universitätsklinikum Leipzig und Forscher am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften, die semantische Demenz. Bei der nicht-flüssigen Aphasie hingegen verzögere sich die Sprache, die Grammatik gehe verloren und die Betroffenen sprächen mehr und mehr im Telegrammstil: „Ich telefonieren Sie“ anstatt „Ich telefoniere mit Ihnen“.
Wenn gerade zu Beginn eher die psychischen Veränderungen auffallen, wird die FTD manchmal zuerst als Schizophrenie, Depression oder eine andere mentale Erkrankung eingestuft. Allerdings gebe es Hinweise wie das Alter, in dem die Symptome erscheinen, welche Behandelnde auf die richtige Fährte bringen können. „Mittlerweile sind auch weitere Kriterien für Biomarker eingeführt worden, mit deren Hilfe man die Diagnose FTD festigen kann“, so Schroeter.
Ist die frontotemporale Demenz erst einmal festgestellt, bleibt die Hürde der Behandlung. Bisher haben sich pharmakologische Therapien vor allem darauf konzentriert, die Symptome zu lindern – mit teils mäßigem Erfolg. Häufig gebe es für die jeweiligen Ansätze nur unzureichende klinische Evidenz, bemängeln Forscher in einer Übersichtsstudie. Hilfreich sei der Einsatz von Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmern (SSRIs), um Aufruhr, Enthemmung, stereotypes bzw. zwanghaftes Verhalten und Depression zu behandeln. Dagegen zeigen einige Demenztherapien deutliche Nebenwirkungen wie Delirium und Verwirrung. Der Wirkstoff Memantin, der bei Alzheimer-Erkrankungen eingesetzt wird, kann sogar den kognitiven Verfall bei bvFTD beschleunigen.
Das Ziel der Forschung ist es zudem, die Erkrankung auch an den Wurzeln anzugehen und nicht nur die Symptome zu behandeln. Das ist allerdings besonders schwierig, weil die Bandbreite so groß ist. „FTD ist es diffuser als Alzheimer“, sagt Matthias Schroeter. „Es gibt verschiedene Proteine, die eine Rolle spielen, und in 20 bis 30 Prozent der Fälle ist es genetisch bedingt.“ Die klinische Forschung konzentriere sich derzeit vor allem auf die genetischen Veränderungen, denn dort kann man gezielt die Auslöser angreifen. Dabei sind drei wichtige Mutationen bekannt.
Die GRN-Mutation führt zu verminderten Mengen des Progranulin-Proteins im Plasma und in der Rückenmarksflüssigkeit. Bei anderen Betroffenen hat ein Gen namens C9ORF72 zusätzliche Sequenzwiederholungen in einer nicht-kodierenden Region. Wie genau das zu den Symptomen führt, ist noch unklar. Eine Theorie geht aber von der Produktion toxischer RNA aus. Die dritte Mutation betrifft das Tau-Protein, das auch bei der Alzheimer-Krankheit eine Rolle spielt und durch den Defekt verklumpt.
„Manche Studien sind schon weit vorangeschritten, teils bis in Phase III, aber noch haben sie nicht zu klinischen Anwendungen geführt“, so Schroeter. Wie lange das dauern kann, sehe man an den Bemühungen bei der Alzheimer-Erkrankung. „Da wird seit etwa 15 Jahren nach einer Therapie gesucht und Lecanemab ist nun das erste Medikament, das zu funktionieren scheint.“ Mit einem wichtigen Unterschied: Alzheimer ist eine häufige Erkrankung, FTD hingegen selten. „Damit verdienen Pharmaunternehmen also weniger Geld und müssten hohe Preise verlangen, wenn sie ein Medikament entwickelt haben.“
Zumindest geht es voran in der Erforschung – trotz der Hürden. Wichtig ist weiterhin die Grundlagenforschung, um die Mechanismen der FTD besser zu verstehen. Nur so lassen sich auch für nicht-genetische Varianten sinnvolle Studien durchführen.
Bei all dem Fokus auf pharmakologische Lösungen hat Matthias Schroeter noch eine wichtige Botschaft: „Es gibt andere Interventionen wie Ergotherapie, neuropsychologische Therapien, Sprach- und Verhaltenstherapien.“ Das werde häufig vergessen. Natürlich sei es schön, wenn man mit einem Medikament die Erkrankung vollständig heilen kann. Doch auch so muss eine Diagnose nicht bedeuten, dass die Patienten innerhalb kurzer Zeit zu Pflegefällen werden, weiß Schroeter. „Gerade jüngere Leute mit Sprachauffälligkeiten, die noch im Arbeitsleben stehen, kann man oft so behandeln, dass sie sogar vorerst weiterarbeiten können.“ Es brauche ein Umdenken in der Politik und bei den Krankenkassen, um die Betroffenen und ihre Familien bestmöglich zeitig zu unterstützen.
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Bildquelle: Andrew Neel, Unsplash