Ob man es wahrhaben will oder nicht: Das deutsche Gesundheitssystem hat ein Rassismusproblem. Wie sich das zeigt und was dagegen getan werden muss, lest ihr hier.
Eine Frau, die aus Indien stammt, muss in Deutschland zum Allgemeinmediziner. In flüssigem Englisch versucht sie, der Ärztin ihre Beschwerden nahezulegen. Doch daraus wird nichts: Die Ärztin bohrt nur immer weiter nach, warum sie kein Deutsch könne, bis die Patientin aufgibt und die Praxis verlässt. „Wir sind in Deutschland, hier muss man Deutsch sprechen!“ Dabei hatte sie sich extra diese Praxis ausgesucht, da es auf der Website hieß, man spreche Englisch. Woanders stellt sich eine 50-jährige türkischstämmige Frau mit Bauchschmerzen in einer Notaufnahme vor, doch eine vernünftige Anamnese oder Diagnostik erhält sie nicht: „Bei türkischen Frauen in dem Alter wissen wir ja, dass das psychosomatisch ist“, erklären die gestressten Ärzte.
Einzelfälle? Leider nicht: Wie den Patienten aus den obigen Erfahrungsberichten geht es vielen Menschen in Deutschland mit einer anderen Hautfarbe, Sprache oder Herkunft. Rassismus in der Medizin ist verbreitet – umso wichtiger ist es, darüber offen zu sprechen. Aus diesem Grund rückte auf dem diesjährigen DGIM-Kongress in Wiesbaden die Junge DGIM das unangenehme Thema mit einer Session in den Fokus.
Wie weit verbreitet das Problem tatsächlich ist, ist schwer zu sagen. „Das Unbehagen, über das Thema zu reden, ist auch in der dünnen Datenlage reflektiert“, stellt Dana Abdel Fatah vom Berliner Institut für Integrations- und Migrationsforschung in ihrem Vortrag fest. Man müsse sich viel auf Erfahrungsberichte stützen, da es an systematischen Studien mangele. Die wenigen Studien, die es gibt, zeichnen hingegen ein bedenkliches Bild. Im Afrozensus 2020, einer nicht-repräsentativen Online-Erhebung zur Lebensrealität dunkelhäutiger Menschen in Deutschland, gaben rund drei Viertel der Befragten an, in den letzten zwei Jahren im Gesundheitswesen wegen ihrer Hautfarbe diskriminiert worden zu sein. Rund 45 % fanden, dass Ärzte manchmal bis sehr häufig ihre Beschwerden nicht ernst nahmen.
Daraus resultieren längst nicht nur verletzte persönliche Empfindlichkeiten, wie manch einer solche Situationen vielleicht herunterspielt. Durch solche Erfahrungen wird das Vertrauen zwischen Arzt und Patient empfindlich in Mitleidenschaft gezogen oder kann gar nicht erst aufgebaut werden – weshalb Menschen mit Migrationshintergrund nachweislich deutlich seltener medizinische Leistungen wie Vorsorgeuntersuchungen in Anspruch nehmen. Wie Abdel Fatah weiter darlegt, können pauschalisierende Zuschreibungen spezifischer Krankheitsbilder wie im obengenannten Beispiel zu Unter- und Überdiagnostik führen. Falsche Diagnosen und Behandlungen, verminderte Adhärenz und schlechtere gesundheitliche Outcomes sind die Folge.
Es geht hierbei aber keineswegs darum, nun alle deutschen Ärzte als Rassisten zu beschimpfen. „Wir können das Problem nicht nur auf einzelne Ärzte reduzieren“, so Abdel Fatah. Es ginge vielmehr darum, Rassismus als systematisches Merkmal sozialer Ordnungen denn als vorsätzliche, bösartige Handlung von Einzelpersonen zu verstehen. Im Gesundheitssystem manifestiert sich Abdel Fatah zufolge der Rassismus in mannigfaltiger Weise, beispielsweise auf institutioneller Ebene in der Struktur von Organisationen, eingeschliffenen Gewohnheiten und etablierten Wertvorstellungen. Anti-Rassismus-Leitstrategien könnten hier helfen, entgegen zu steuern.
Auch auf der obersten, strukturellen Ebene des Gesundheitssystems gibt es Probleme, die angegangen werden müssen. Sprachbarrieren beispielsweise: Durch fehlende mehrsprachige Informationen wird einerseits den Patienten der Zugang zur Versorgung erschwert. Auf der anderen Seite sitzen frustrierte Ärzte, die sich ihren Patienten nicht verständlich machen können – was nur die ohnehin knappe Zeit raubt. Ein verstärkter Einsatz und ein grundsätzliches Recht auf Sprachmittlung könnten helfen, das muss jedoch auch finanziert werden, wie Abdel Fatah einräumt. Mit den bestehenden Fallpauschalen ist das leider noch undenkbar.
Natürlich hakt es auch noch auf individueller Ebene beim Handeln des einzelnen Arztes. Dabei geht es weniger um offen abfällige Kommentare, sondern auch um unbewusste, implizite Bias, die besonders in stressigen Reaktionen wie der überfüllten Notaufnahme zum Tragen kommen – ohne, dass das in böser Absicht geschieht. Und Schubladendenken betrifft so ziemlich jeden. Abdel Fatah: „Das ist so stark verankert, dass man sich selber davor gar nicht schützen kann.“ Hier hilft es nur, sein eigenes Verhalten immer wieder zu reflektieren und zu versuchen, sein Gegenüber als Individuum mit eigenen Bedürfnissen zu verstehen – ganz unabhängig von Herkunft und kulturellem Hintergrund.
Den allgegenwärtigen Rassismus loszuwerden, ist ein langfristiger Prozess, der Ansätze auf allen Ebenen erfordert. Die Kernbotschaft von Abdel Fatahs Vortrag ist vor allem: „Wir müssen es schaffen, ohne Tabu [über Rassismus] zu reden.“ Wichtig ist es, das Thema möglichst wenig emotional anzugehen – ohne die üblichen Schuldzuweisungen, verbalen Angriffe und Abwehrreaktionen. Denn diese stehen einer zielführende gesellschaftlichen Diskussion nur im Wege.
Bildquelle: mauro mora, Unsplash