Wer sich nicht mehr daran erinnern kann, wie sich Schmerzen anfühlen, kann auch nicht äußern, dass er welche hat. Viele Demenzpatienten stecken in genau diesem Dilemma: ihre Schmerzen werden nicht erkannt – und nicht behandelt.
Viele Betreuer von demenzkranken Menschen kennen es: Der Patient lehnt das Essen, vielleicht auch das Trinken ab. Vielleicht dauert dieser Zustand auch längere Zeit an. Was könnte der Grund für dieses Verhalten sein? Oftmals herrscht Ratlosigkeit. Eine mögliche Ursache für dieses Verhalten sind körperliche Schmerzen. Dabei hatte der Patient auf die Frage, ob er Schmerzen habe, mehrfach verneint. „Auf ein solches „nein“ kann man sich nicht verlassen“, erklärt Petra Mayer, Trainerin für Palliative Care und Autorin des Buches „Der vergessene Schmerz“. „Denn Menschen mit einer dementiellen Erkrankung verstehen oftmals kognitiv nicht mehr, was Schmerzen sind, obwohl sie welche empfinden“.
Dass ein Mensch, der Zahnschmerzen hat, nicht essen möchte, leuchtet ein. Bei sehr vielen dementen Menschen werden die Schmerzen schlicht nicht erkannt. Dabei müsste bei typischen Erkrankungen älterer Menschen, wie beispielsweise Arthrose, Osteoporose oder neuropathischen Krankheitsbildern, unbedingt daran gedacht werden, dass diese Krankheiten oftmals mit (starkem) chronischen Schmerzgeschehen einhergehen. Doch obwohl man das weiß, bekommen Patienten ohne kognitive Einschränkungen dreimal mehr Analgetika als Demenzpatienten (McLachlan et al., 2011; Horgas and Tsai, 1998, Cohen-Mansfield, 2002). Wissenschaftler vom Institut für medizinische Soziologie der Charité-Universitätsmedizin in Berlin untersuchten im Jahr 2010 im Rahmen des Forschungsprojektes PAiN (Pain and Autonomy in the Nursing Home) die Schmerzsituation in Pflegeheimen in Berlin und Brandenburg. Sie kamen zu dem Ergebnis, dass 59 Prozent der Menschen mit dementen Erkrankungen unter nicht erkannten und damit unbehandelten Schmerzen leiden. Die meisten Demenzpatienten werden allerdings über lange Zeit zu Hause betreut und von Angehörigen gepflegt. Da im häuslichen Umfeld bei der Pflege durch Angehörige noch weniger Fachwissen zum Schmerzgeschehen bei Demenz vorausgesetzt werden kann, sind die Zahlen hier wahrscheinlich deutlich höher als im stationären Bereich. Das liegt mitunter auch daran, dass die Diagnosen unvollständig sind und die Betreuenden gar nichts von bestehenden Erkrankungen, und damit von möglichen Schmerzen, wissen.
Das Thema Schmerzmanagement und Schmerztherapie bei Demenzpatienten ist ein relativ junges Feld. Daher ist das Bewusstsein für das Problem und die missliche Lage der Patienten in der Gesellschaft und der Pflege noch relativ gering. Dazu kommt, dass Menschen mit dementiellen Erkrankungen ihren Schmerz oft anders äußern, als man das von ihnen erwartet und auch anders, als sie das vor ihrer Erkrankung getan haben. Das Verhalten wird als herausforderndes Verhalten oder als Abwehrverhalten interpretiert und als Symptom der Demenzerkrankung angesehen. Dabei wird ungewollt verkannt, dass Verhaltensweisen wie Aggression, Umherlaufen, häufige Toilettengänge, grimassieren und viele weitere auch auf ein Schmerzgeschehen hindeuten können – besonders in der Gesamtheit der Hinweise betrachtet. Aber anstatt einer Schmerztherapie erhalten die Patienten, die scheinbar unangebrachtes Verhalten zeigen, Psychopharmaka.
Um Schmerzen auch bei Patienten mit Demenz zu erkennen, muss man aufmerksam mit den Patienten umgehen. Es gibt 91 indirekte Schmerzzeichen, die Hinweise geben; verschiedenste physiologische Zeichen, die Mimik und Gestik, lautsprachliche Äußerungen und das Verhalten. In Kombination mit bestehenden Diagnosen und speziellen Assessment-Instrumenten (z. B. die BESD-Skala und der BISAD-Bogen) erhält man Hinweise darauf, ob eine Schmerzsymptomatik vorliegen könnte. „Dann sollten wir eine Schmerztherapie einleiten und beobachten, ob sich das Verhalten ändert“, erklärt Petra Mayer. Sehr häufig funktioniert dieses Vorgehen und die Patienten werden ruhiger und das Abwehrverhalten wird weniger.
Demenzerkrankungen geben uns noch immer in vielerlei Hinsicht Rätsel auf. Dazu gehört auch die Beobachtung, dass Menschen mit dementiellen Erkrankungen plötzlich ganz ungewohnte Verhaltensweisen zeigen. Manche ziehen sich komplett zurück, manche wandern ruhelos umher, andere zeigen aggressives Verhalten. Warum ein Mensch mit Demenz sich anders verhält, als er es vor seiner Erkrankung tat, kann häufig nicht eindeutig erklärt werden. Doch Petra Mayer ist der Meinung, dass es kein demenzbedingtes Verhalten gibt. Vielmehr hätte auch bei Demenzpatienten jedes Verhalten einen Grund. Und oftmals seien das eben nicht erkannte körperliche, psychosoziale oder seelische Schmerzen. Damit Betreuer von Demenzpatienten zukünftig besser in der Lage sind, Schmerzen zu erkennen und eine angemessene Therapie zu fordern, muss an verschiedenen Stellen gearbeitet werden. Petra Mayer hat zusammen mit ihrer Kollegin Rosmarie Maier eine Weiterbildung zum Demenz-Care Praxisbegleiter entwickelt, die Pflegekräfte in Heimen vor Ort und am Beispiel der eigenen Patienten in der Erkennung von Schmerzen und anderen für Demenzerkrankungen typische Auswirkungen schult. Neben einem anderen Blick auf das Verhalten der Patienten durch professionelle Pflegekräfte, muss aber auch bei betreuenden Ärzten das Bewusstsein für das Thema Schmerzen bei Demenz erhöht werden. Zudem muss, wie Rebecca Chandler und Benjamin Bruneau von der University of Greenwich in London in einem aktuellen Review in der Zeitschrift Nursing Times erläutern, auch die Angst vor der Gabe von Schmerzmedikamenten, besonders aus der Klasse der Opiate, abgebaut werden. Und auch pflegende Angehörige sollten durch den betreuenden Arzt dafür sensibilisiert werden, auf mögliche Äußerungen oder sich änderndes Verhalten zu achten, an Schmerzgeschehen zu denken und auch immer wieder danach zu fragen. Denn wenngleich ein „nein“ nicht bedeutet, dass der Patient keine Schmerzen hat, so sollte ein „ja“ immer ernst genommen werden.